Sie alle lachten daraufhin herzhaft. Gert ging wieder zurück zu ihrem Platz. Der Wirt trat zur Seite. Alle sahen nun Martin an, um mitzubekommen, was er als Nächstes tun würde.
»Gute Leute!«, verkündete Martin laut und ließ seine linke Hand verstohlen in seine Tasche gleiten. »Gäste des Verrotteten Stumpfs merkt euch diesen Moment gut, denn eines Tages werdet ihr eure Enkel um euch scharen und ihnen von dem Tag erzählen, an dem der große Zauberer Martin der Prachtvolle euch … ein Tuch zeigte, durch das man hindurchsehen kann!«
Mit einem Schwung holte er die Asservatentüte aus seiner Tasche hervor und hielt sie mit beiden Händen über seinen Kopf. Das Lachen verstarb sofort. Die Gäste näherten sich nun langsam Martin und dem Plastikbeutel. Nie zuvor hatten sie so etwas gesehen. Er nahm ihn herunter, damit sie ihn genauer betrachten konnten.
»Das muss man dir echt lassen, Bursche«, sagte der Gastwirt und begutachtete die Plastiktüte, während Martin sie festhielt. »Das ist in der Tat etwas Besonderes.«
Ein alter Mann stieß mit dem Ende seiner Pfeife vorsichtig gegen die Tüte und beobachtete, wie diese sich unter dem Druck verformte. »Wird es Wasser abhalten?«
»Ja«, sagte Martin. »Es lässt Licht hindurch, hält aber Wasser fern!«
Der Wirt warf Martin einen prüfenden Blick zu. »Kannst du noch mehr davon machen?«
»Ja!«, erwiderte Martin sofort. »Natürlich kann ich das.«
»Ich werde euch was sagen. Wenn du mir mehr davon machst, sagen wir ein paar Quadratmeter, hast du heute Nacht einen Platz zum Schlafen.«
»Du tauschst also eine Unterkunft gegen den durchsichtigen Stoff ein?«
»Nein. Aber ich werde dir einen Stock leihen und du kannst dir ein Zelt daraus machen.«
Eine Stimme rief von der Tür aus: »Hallo Pete. Mir wurde gesagt, ich kann bei etwas behilflich sein?«
Alle Augen richteten sich nun auf die Tür. Dort stand ein Mann von durchschnittlicher Größe und etwas kräftigerem Körperbau. Er hatte einen Bart, der ordentlich getrimmt war, wachsame Augen und das Auftreten eines Mannes, der genau wusste, was er tat. Er trug eine fließende, azurblaue Robe mit ausgestellten Ärmeln, die mit Abstand das sauberste Kleidungsstück in diesem Gebäude war, und dazu einen spitzen Hut, der perfekt auf die Robe abgestimmt war. In den Händen hielt er einen polierten Holzstab. An der Spitze des Stabs war mithilfe einer Schnur eine gewundene Phiole angebunden, in der sich eine dicke, rote Flüssigkeit befand. Diese war mit einem Korken verschlossen.
»Aye, Phillip. Danke fürs Kommen«, sagte der Schankwirt lächelnd. »Ich glaube, es ist angebracht, dass ich euch vorstelle. Bursche, Phillip hier ist ein mächtiger Zauberer und Freund des Hauses. Mit Haus meine ich mich. Phillip, dieser Bursche da behauptet, ein mächtiger Zauberer zu sein, und legt mir nahe, dass ich ihm Abendessen und ein Bett geben soll.«
Phillip der Zauberer verbeugte sich vor Martin. »Es ist mir immer ein Vergnügen, jemanden zu treffen, der ebenfalls die unbegreiflichen Künste praktiziert! Du kennst mich bereits. Ich bin Phillip. Wie ist dein Name?«
Verdammt richtig. Ich kenne dich bereits, dachte Martin. Er hatte diesen »Zauberer« sofort durchschaut. Die freundlichen Worte, das selbstsichere Auftreten, die eindrucksvolle Robe. Er trat genau so auf, wie es die mit Bühnenrequisiten ausstaffierten Teilnehmer auf Conventions normalerweise immer taten.
»Er sagt, sein Name ist Martin der Prachtvolle«, meinte Pete, der Wirt, bevor Martin reagieren konnte.
»Ah. Sehr erfreut, dich kennenzulernen, Martin.« Der Zauberer verbeugte sich wieder, und zwar noch tiefer. Sein Blick fiel auf die Plastiktüte. »Meine Güte! Was ist denn das?«
»Er nennt es durchsichtigen Stoff«, entgegnete Pete und schnitt Martin erneut das Wort ab. »Hat gesagt, dass er es hergestellt hat.«
»Tatsächlich?«, erkundigte sich der Zauberer mit staunendem Blick. »Dürfte ich es vielleicht mal etwas näher betrachten, Martin?«
Martin wollte ihm die Plastiktüte aber nicht aushändigen. Wer weiß, ob er sie ihm wieder zurückgeben würde. Andererseits könnte er ja jederzeit wieder in die moderne Zeit zurückgehen und sich mehr Plastik besorgen. Aber wenn dieser Phillip sich mit seiner Tüte davonmachte, hätte er diesem Scharlatan nur noch ein weiteres Hilfsmittel gegeben, mit dem er die Bauerntrampel betrügen und davon überzeugen könnte, dass er ein mächtiger Zauberer war. Martin wollte das nicht auf dem Gewissen haben, deshalb hielt er Phillip die Tüte zwar näher hin, umklammerte sie aber fest.
Phillip lächelte und stieß das Plastik mehrmals vorsichtig mit dem Zeigefinger an. »Beeindruckend! Offensichtlich bist du wirklich ein Zauberer mit ungeheurer Macht, Martin. Sag mir, kannst du noch mehr davon zaubern?«
»Bemüh dich nicht darum, ihm zu sagen, dass er sich selbst ein Zelt machen kann, denn das habe ich bereits getan«, meinte Pete lakonisch.
»Ich bin mir sicher, dass du das schon getan hast, Pete. Nein, ich wollte nur sehen, wie er mehr von diesem wundersamen Material herstellt. Es ist mir immer ein Vergnügen die Arbeit eines anderen Zauberers erleben zu können. Vielleicht kann ich ja sogar noch etwas lernen. Wie wäre es, Martin? Du hast einen Stoff hergestellt, durch den man hindurchsehen kann. Kannst du noch mehr davon erzeugen?«
»Natürlich kann ich mehr davon machen! Wann immer ich will!«, sagte Martin selbstsicher.
»Großartig!«
»Aber ich kann es nicht tun, wenn Leute mich dabei beobachten!«
Die anderen mussten lachen, aber Phillip hob ermahnend eine Hand und brachte sie damit sofort zum Schweigen. »Das verstehe ich natürlich. Es gibt bei uns Zauberern einige Dinge, die nicht für anderer Leute Augen bestimmt sind. Es war unfair von mir, dich zu fragen, ob du noch mehr transparenten Stoff gleich hier vor unseren Augen herbeizaubern kannst.«
Martin atmete erleichtert aus und war froh gerade noch mal so davongekommen zu sein.
»Wir müssen einen ungestörten Ort finden, an dem er arbeiten kann.«
Gert schubste Martin daraufhin in einen kleinen Raum voller Fässer und schlug die Tür hinter ihm zu. Er war dunkel, feucht und muffig. Hinter der Tür konnte Martin den Zauberer, den Schankwirt und seine Entführer, reden hören.
»Er wird da drin kein Licht haben.«
»Oh, er sollte auch keins brauchen. Man nennt es doch schließlich die dunklen Künste.«
»Und was ist, wenn er nicht mehr von dem Stoff produzieren kann, durch den man hindurchsehen kann?«
»Das würde bedeuten, dass er ein Lügner ist. Also würden wir selbstverständlich all seine Habseligkeiten nehmen, ihn mit Mist beschmieren und ihn aus der Stadt jagen.«
Martin hatte nun eine erschreckende Vision von sich selbst in schmutziger und zerrissener Kleidung. Er würde daraufhin in die Wälder fliehen, während Phillip seine ehemaligen Habseligkeiten untersuchen und dabei auf sein Handy stoßen würde. Es war ein schrecklicher Gedanke, und Martin wusste, dass er es nicht so weit kommen lassen würde. Natürlich konnte er sich einfach hier rausteleportieren, aber was dann? Nein, er musste ihnen demonstrieren, dass er ein richtiger Zauberer war und diesem Betrüger damit ein für alle Mal das Maul stopfen. Sobald er das erledigt hatte, würden die Dinge bestimmt ganz einfach werden.
Martin schaltete das Handy ein. Das Display erhellte den Raum.
»Ich glaube, ich sehe ein schwaches Leuchten unter der Tür!«, rief die gedämpfte Stimme des Wirts.
»Siehst du?«, sagte der Zauberer. »Ich denke, wir werden bald schon feststellen, dass dieser Martin recht einfallsreich ist.«
Ihr wisst noch nicht mal die Hälfte, dachte Martin.
***
Walter und Margarita Banks standen derweil verunsichert in der Küche ihres Hauses in einem Vorort