Andere Gebilde, unter sich grundverschieden, stiegen danach aus der Retorte. Aber ich musste immer organisch verfahren und nahm nur auf, was sich irgendwie vom Leben her verbürgen ließ; reine Willkür in der Erfindung widerstrebte mir stets wie alles Wurzellose, es wäre denn zu Zwecken der Komik gewesen. Da war unter vielen anderen eine Gestalt, eine arme Stickerin, die einen klassischen Kopf auf verwachsenem Körper trug; Zenobia hieß sie, und dieser aus einer Tragödie Voltaires geholte weltgeschichtliche Name war ihr als Verhängnis mitgegeben. Er regte sie, wenn sie sich über ihre Nadel bückte, zu hochfliegenden Träumen von Helden und Weltherrschern an, deren sie sich durch ihre Seelengröße würdig fühlte, während sie den Spießern der schwäbischen Kleinstadt, die ihr Körperliches beherbergte, nur Anlass zu spöttischem Mitleid gab. Bis ihr Stern es will, dass sie einem leibhaften Weltbezwinger in die Augen schaut, und um die Größe der Stunde nicht zu überleben, im Rausch der Selbstvernichtung unter den Hufen seiner Rosse endet. Eine Zeit lang trug ich sie mit mir, ohne dass es ihr gelang, ihren Mitbewerbern im Chaos den Rang abzulaufen. Sie tauchte nur wie die anderen in mir auf und nieder. Da geschah es, dass sie eines Tages ganz plötzlich durch eine Begegnung zur Form gerann. Ich saß während eines kürzeren Aufenthalts in München gerade in der Straßenbahn, als ich unter den Mitfahrenden eine seltsame Persönlichkeit gewahrte, die mit abwesender Miene und mit Augen, die die Wirklichkeit nicht sahen, weil sie ihr offenbar zu gering war und vor ihrem inneren Gesicht ein Höheres stand, von allen anderen Fahrgästen weit getrennt erschien. Es durchzuckte mich: Das ist Sie! Das ist Zenobia! Und richtig: als der Wagen hielt, erhob sie sich und grüßte, ehe sie ausstieg, ohne jemand anzuschauen, mit feierlich-stummen Verbeugungen in der Runde, dass alle Anwesenden lächelten. Im Weiterfahren konnte ich die Augen nicht von ihr abwenden: denn, o Wunder! da stand sie noch immer mitten in der Maximilianstraße neben der Schiene – sie konnte sich das leisten, denn was man heute Verkehr nennt, gab es ja noch nicht – und wiederholte ihre Knickse in die leere Luft. Jetzt hatte ich sie in der Tat mit ihrem Auftreten am kurfürstlichen Hof, so wie ich sie brauchte, leibhaft vor Augen, die arme bucklige Kaiserin, denn alles Leben liegt in der Bewegung; den fehlenden Buckel, den klassischen Kopf und was ihr sonst noch mangelte, um ganz meine Zenobia zu sein, ergänzte die Fantasie von selber. Zurückgekehrt, machte ich mich gleich an die Arbeit und verließ sie nicht, bis ich damit zu Ende war. Während ich darüber saß, erhielt ich von Freundesseite eine Einladung nach Neapel, wohin ich noch nie gekommen war und das mir danach noch lange, lange unerreichtes Wunschziel bleiben sollte; denn was half’s, ich konnte Zenobia nicht im Stich lassen. Nur einmal unterbrach ich das Schreiben: als Böcklin starb und jüngere Künstler mich baten, für die zu veranstaltende Trauerfeier das Carmen zu dichten.
Die Novelle erschien wie die meisten anderen in Rodenbergs »Deutscher Rundschau«. Ich hatte um diese Zeit die Freude, die berühmteste und zugleich bescheidenste deutsche Schriftstellerin und gütigste aller Kolleginnen, Marie von Ebner-Eschenbach, kennenzulernen. Sie begrüßte mich gleich mit dem Namen Zenobia auf den Lippen. Die tragische Fantastin, die aus ihrer Niedrigkeit die Augen zu dem Sieger von Austerlitz zu erheben wagt, hatte es ihr, wie sie sagte, angetan, und an dem nächtlichen, einem flammenden Meteore gleichenden Durchzug des Imperators rühmte sie die geheimnisvolle tödliche Anziehungskraft, die die arme Bucklige in den Untergang zwingt, wie das Licht den umschwirrenden Falter.
Wir sind eigentlich alle solche Zenobien, sagte die Dichterin sinnend. Wer hat sich nicht schon in eine ganz nahe Beziehung zu einem unerreichbar Großen hingeträumt, mit dem uns unser Lebensweg nie zusammenführen kann.
Jawohl, sagte ich, der Heldenverehrung meiner eigenen Jugend gedenkend, auch zu Längstgestorbenen und zu solchen, die nie gelebt haben.
Was sie mir noch Gütiges über meine Bücher sagte, war für die allein und abseits Stehende eine große Wohltat. Ich bekam ja lobende Kritiken genug und auch manche sogar überschwengliche Stimme aus Leserkreisen zu hören. Der feinfühlige Laie versteht wohl die Eingebung, die immer das Wesentliche bleibt, doch kennt er nicht die Wege des Zustandekommens, und er soll sie nicht kennen, sie würden ihm den Genuss nur verwirren. Aber verstehende Anerkennung, die der ältere Meister dem jüngeren entgegenbringt, erfreut nicht nur, sie fördert auch. Ich vertraute ihr an, mit was für äußeren Hemmungen meine Arbeiten zu ringen hatten. Die Gefeierte, von der ich annahm, dass ihre gesellschaftlichen Vorteile sie von vornherein jedem Kampf enthoben haben müssten, bekannte mir, wie schwer auch ihr der Weg zum Schaffen gemacht worden sei, und dass sie noch immer ein unverfängliches Stück Papier neben sich auf dem Schreibtisch haben müsse, um es schnell auf ihr Manuskript zu decken, damit sie nicht beim Schreiben überrascht würde. Weil sie meine vermeintliche Gelehrsamkeit bestaunte, erzählte ich ihr, dass ich nie ein Schulzimmer betreten hatte, dass mir kaum jemals Festes, Fertiges übermittelt worden war und dass ich mir mein bisschen Eigen aus der Allverkettung der Dinge selber hatte herausklauben müssen. Sie war vielleicht noch schlimmer gefahren, da sie mit der üblichen Komtessenbildung ihren Weg begonnen hatte und erst später durch die Freundschaft mit einer edlen Frau – Ida von Fleischl –, derselben, die auch die einsame Louise von François betreute, in höhere geistige Welten eingeführt worden war. Jetzt hatte sie einen brennenden Eifer, Lücken auszufüllen, das in der Jugend Entgangene nachzuholen, und umgab sich mit Gelehrten, aus deren Wissen sie gläubig und demütig schöpfte, während sie selber besaß, was kein Gelehrter geben kann: die angeborene Wahrschau in