Besser als dazumal in der Bedrängnis der Nähe kann ich heute die Zwangsläufigkeit in dem Geschick der unseligen Frau erkennen, die so an ihrem besten Leben vorüberlebte. In der kleinstädtischen Umwelt und der Bildungsschicht, aus der sie stammte, hätte sie gewiss ein Glück nach ihrem Herzen finden können. Aber bei meinem Bruder, für dessen Persönlichkeit ihr der Maßstab fehlte und dessen Glücksumstände sie überschätzt hatte, war sie aus ihrer Sphäre getreten, ohne in der seinigen, nach der sie kein Verlangen trug, heimisch zu werden, und das nahe Zusammensein mit einer Familie wie der unsrigen brachte sie in eine Stellung, der sie innerlich nicht gewachsen war. Dass dann gleich zu Anfang ihrer Ehe der böse Geist ihrer Mutter kommen musste, ihr die Fäden zu verwickeln, das war für diese Natur zu viel. Ein liebendes Herz hätte sich freilich zurechtgefunden, aber sie liebte nicht, sie konnte gar nicht lieben, denn ihr ganzes Wesen wohnte im Negativen. Ich habe mich später oft gefragt, ob es denn gar nicht möglich gewesen wäre, aus der unglücklichen Hausgenossenschaft etwas Besseres herauszuholen; aber das war auch dem großen Herzen meiner Mutter, die ihr ja gar nicht im Wege stand, nicht gelungen.
Erst in der Todeskrankheit meines Bruders erwachte in der Frau das Menschentum, dass sie ihn sorgsam und treulich pflegte und auch die Angehörigen nicht abwehrte, die er um sich versammelt wollte; die wärmste Anerkennung lohnte ihr dafür. Aber nach seinem Hingang fiel sie in ihre alte Art zurück; man sah sich nicht mehr, ich vernahm nur durch Dritte noch gelegentlich von ihr und verlor sie schließlich ganz aus den Augen. Da war es erschütternd zu hören, wie sie am späten Ende noch eine tragische Höhe erstieg, indem sie, alt und mürbe geworden und nun selbst in Bitternisse geraten, sich entschloss, ihr missglücktes Leben freiwillig zu endigen. Diese allzu herbe Sühne wirft ein milderndes Licht auf alles Vergangene, das ja nicht ihr gewolltes Werk, nur die Auswirkung ihres bösen Gestirnes war. Gerne möchte man sich vorstellen dürfen, der nie verstandene Lebensgenosse sei ihr drüben – in dem Drüben, an das er von seiner Naturwissenschaft aus nicht glauben konnte –, erbarmend entgegengekommen und habe die ratlose Seele an einen Ort des Friedens geführt.
Von einer solchen Einsicht konnte freilich während der Verdammnis eines Zusammenwohnens, wo schließlich die eigene Seele Gefahr lief, sich mitzuvergiften, keine Rede sein. Schon das Wissen um all die Vorgänge – Frauenaugen müssen ja sehen, ob sie wollen oder nicht – war entwürdigend. In dieses Inferno folgte mir auch der unsichtbare Gefährte nicht mehr. Der große Leidverwandler kann wohl Not und Tod in Schönheit wandeln, aber die Ausströmungen einer kranken Seele nicht. Es blieb nichts übrig als zusammenzupacken und zu weichen.
Von jetzt ab war ich für eine lange Reihe von Jahren Vogel auf dem Zweig. Ohne festen Wohnsitz, mit nichts Eigenem als meinem Koffer, bewegte sich mein Leben durch unzählige Pensionen oder Mietzimmer immer im Kreis, bald näher bald ferner, um das in der Via delle Porte nuove verbliebene mütterliche Zentralgestirn. Da sie von Edgar nicht lassen wollte, aber zu welken meinte, wenn sie mich nicht hatte, blieb mir keine andere Wahl. Mich an all die Orte zu erinnern, wo ich nacheinander in Florenz gewohnt habe, ist mir nicht mehr möglich; an keinem war meines Bleibens. Bald war es ein Klavier im Hause, bald ein dröhnender Neubau in der Straße, bald der Wegzug der Vermieter selbst, was mich von hinnen trieb. Niemand konnte dieses irrende Leben begreifen, das immer auf dem Sprunge war. Durch Freundeszuspruch hatte ich mich schon beinahe dazu bewegen lassen, eine kleine Wohnung vor der Stadt für Mama und mich zu mieten, wo sie statt von ihm zu mir zu wandern es umgekehrt halten sollte. Aber ich fühlte selbst mit Bangen den Missgriff, den ich im Begriff war zu begehen; da riet mir zum Glück der immer klarblickende Freund Hildebrand dringend von dem Vorhaben ab, weil ja dem Temperament meiner Mutter, das gewohnt sei, sich auf viele Menschen zu verteilen, durch diese Lösung gar nicht gedient wäre und ich mit ihr allein keine Sammlung zur Arbeit fände. Ich war ihm dankbar für dieses Wort, das nur aussprach, was ich selber wusste, denn er sprach damit mein Gewissen frei, und auch meine Mutter war es zufrieden, wenn ich nur nicht ganz von ihr ginge. Wenn sie die Macht über die Kinder hatte und ihren Spirituskocher, um sich zu versorgen, dazu die Möglichkeit, so oft die Sehnsucht sie trieb, mich zu sehen, so wollte sie weiter nichts vom Leben. Da flog dann plötzlich einmal die Türe auf und sie wie ein verstürmter kleiner Vogel an meinen Hals. Wer konnte ihr böse sein, wenn sie auch gleich Hut und Umhang auf die Blätter meines Schreibtischs warf? Sie legte immer erst ein Bündel Schmerzen bei mir ab. Danach aber trat das Überpersönliche in sein Recht; sie erzählte mir von irgendeiner naturwissenschaftlichen Entdeckung, von der sie aus Edgars medizinischen Zeitschriften wusste, oder den Ausspruch eines griechischen Denkers, der ihr eben in die Hände gekommen war. Denn sie hörte nie auf, sich mit der Frage nach dem Unwissbaren zu beschäftigen; sogar in ihrem handgroßen Haushaltungsbüchlein – sie führte wahrhaftig solche, was ihr niemand zutraute – fand ich später noch die mannigfachsten philosophischen Lehrmeinungen zwischen die Zahlen eingestreut. – Schlimm wurde es nur, wenn eine längere Unpässlichkeit sie zwang das Bett zu