»Kommen S’ doch erst einmal herein«, sagte sie. »Vielleicht möchten S’ etwas trinken.«
»Ach ja, das wäre schön«, nickte Schwester Klara. »Wissen Sie, ich bin vor vier Tagen in Regensburg, wo unser Orden zu Hause ist, losmarschiert, und nicht immer sind die Leute so freundlich. Ich meine natürlich nicht die Pfarrer und ihre Haushälterinnen, Frau…«
»Hermine Wollschläger.«
»Ja, Frau Wollschläger, wie gesagt, man hat es heutzutage nicht leicht, wenn man im Auftrag des Herrn unterwegs ist. Die Leute haben ja oft selbst nicht genug zum Leben. Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft.«
Die Haushälterin trat beiseite und ließ die Nonne eintreten, dabei bemerkte sie, daß Schwester Klara leicht humpelte.
»Haben S’ sich verletzt?« erkundigte sie sich teilnahmsvoll und nahm ihr die Reisetasche ab.
»Ja, gestern, als ich über eine Weide den Weg abkürzen wollte, da bin ich an einem Zaun hängengeblieben und habe mir das Bein aufgerissen.«
Jetzt sah Hermine auch, daß der Habit am Saum zerrissen war.
»Kommen S’ in die Küche«, sagte sie. »Ich habe einen schönen Tee gekocht.«
In der Küche bat sie die Besucherin, Platz zu nehmen. Der Tee, es war ein Kräutertee, dessen Zutaten sie selbst im Wald gesucht hatte, stand in einer Kanne auf einem Stövchen. Hermine holte eine zweite Tasse und schenkte ein.
»Haben S’ vielleicht Hunger, Schwester?« erkundigte sie sich. »Natürlich sind S’ herzlich eingeladen, nachher mit uns zu Mittag zu essen. Aber ich könnt’ Ihnen schon jetzt ein belegtes Brot machen.«
Die Nonne faltete die Hände.
»Sie sind zu gütig, Frau Hermine«, sagte sie. »Ja, ein Brot würde ich gerne essen. Wissen Sie, es ist schon eine Weile her, daß ich etwas zu mir genommen habe.«
Während die Haushälterin an den Küchenschrank ging, um das Brot zu holen, trank Schwester Klara einen Schluck von ihrem Tee, verzog angewidert das Gesicht und schüttelte sich.
Brrr, schmeckte das Zeug scheußlich!
Hermine bekam nichts davon mit. Sie strich Butter auf die Brotscheibe und legte – ganz im Gegensatz zu ihrer Gewohnheit – eine dicke Scheibe Wurst darauf.
»Ach, vielen Dank«, sagte die Besucherin. »Das sieht wirklich lecker aus.«
Während sie aß, erkundigte sich die Nonne scheinbar beiläufig nach der Gemeinde und der Anzahl ihrer Mitglieder. Hermine Wollschläger gab bereitwillig Auskunft, und es fiel ihr nicht auf, daß die Schwester sich sehr für die Höhe der sonntäglichen Kollekte zu interessieren schien. Was sie indes bemerkte, war, daß Schwester Klara nicht von ihrem Tee trank.
»Schmeckt er Ihnen net?«
»Doch, doch«, versicherte die Nonne. »Es ist nur so, daß ich ein wenig müde und erschöpf bin. Ich fürchte, der weite Weg hat mich meine letzten Kraftreserven gekostet.«
Sie sah sich um.
»Wenn ich mich irgendwo ein Weilchen ausruhen könnte…?«
»Aber freilich«, nickte die Haushälterin sofort freundlich. »Wir haben ein Gästezimmer. Legen S’ sich dort auf das Bett. Ich wecke Sie dann, wenn Hochwürden wieder da ist.«
Daß die Müdigkeit der Nonne nichts damit zu hatte, daß diese den Tee nicht trank, entging ihr. Sie nahm die Reisetasche und führte die Besucherin in das Gästezimmer, das am anderen Ende des Flures lag, und schloß die Tür hinter ihr.
Normalerweise würde sie nicht dulden, daß eine Frau – außer ihr – im Pfarrhaus schlief. Aber hier war das ja wohl etwas anderes.
Im Gästezimmer blickte sich die Schwester rasch um, dann nickte sie zufrieden und unterdrückte ein Lachen.
Na also, dachte die Frau, die sich Schwester Klara nannte, hat es doch mal wieder geklappt!
*
Sophie Tappert hatte eine Saftkaraffe und zwei Gläser in das Arbeitszimmer gebracht. Sie nickte der jungen Frau grüßend zu und ging wieder. Der Seelsorger schaute die Besucherin erwartungsvoll an.
»Als meine Mutter vor ein paar Wochen verstarb, fand ich in ihrem Nachlaß einen Brief, der an mich gerichtet war«, begann Carla zu erzählen. »Daraus geht hervor, daß der Mann, den ich all die Jahre für meinen Vater hielt, mich adoptiert hatte, als ich acht Monate war… Jetzt bin ich hergekommen, um herauszufinden, woher meine Eltern stammen, wer mein richtiger Vater war und ob es noch Verwandte gibt.«
Sebastian Trenker nickte verstehend.
»Ihre Eltern stammen also aus St. Johann?«
»Ja, das hat mir der Bruder meines Adoptivvaters erzählt. Und hier soll sich auch das Grab meines richtigen Vater befinden.«
Sie berichtete von dem Gespräch mit Heinrich Brinkmann. Der Geistliche hörte geduldig zu und bat anschließend darum, den Brief und die Urkunden lesen zu dürfen. Carla händigte ihm die Unterlagen aus, und Sebastian vertiefte sich darin.
Noch während der Bergpfarrer las, überlegte er, ob er mit dem Namen Hornbacher etwas anfangen konnte. Er kam ihm bekannt vor, schien allerdings irgendwo in der fernen Vergangenheit verborgen zu sein.
Natürlich, erinnerte er sich plötzlich, das war der Name der Familie, die damals den Hof bewirtschaftet hatte, der unterhalb der Zwillingsgipfel lag.
Du liebe Güte, wie lange war das schon her!
Sebastian fiel es wieder ein. Es mußte so um die Zeit gewesen sein, als er auf das Priesterseminar gegangen war. Damals war er lange Zeit von zu Hause fort, und als er dann zurückkam und die Pfarrstelle übernahm, da hatte der Hornbacherhof einen neuen Besitzer.
Der gute Hirte von St. Johann sah die junge Frau einen Moment an.
»Es scheint alles zu stimmen«, sagte er dann. »Ich erinn’re mich noch gut an Ihre Mutter, die Brigitte, und an Ihre Großeltern. Allerdings weiß ich nix über Ihren Vater, den Tobias Starnmoser. Ich bin seinerzeit für einige Jahre fortgewesen, und in dieser Zeit muß sich das alles abgespielt haben; das erklärt wohl, warum ich mit dem Namen Ihres richtigen Vaters net viel anzufangen weiß. Eigentlich wundert es mich, daß damals, als ich zurückkam, net darüber geredet worden ist…«
Er nahm Carlas Hand und drückte sie.
»Ich möcht’ Ihnen mein Beileid ausdrücken«, sagte er. »Wenn man’s recht betrachtet, dann haben S’ mit dem Tod Ihrer Mutter auch den Vater verloren. Was allerdings das Grab des Tobias Starnmoser angeht, da muß ich Sie enttäuschen. Auf uns’rem Friedhof liegt kein Mann mit diesem Namen begraben…«
Carla sah den Geistlichen enttäuscht an.
»Nein?«
Sebastian schüttelte den Kopf.
»Ganz gewiß net.«
Die hübsche Arzthelferin war ratlos.
»Aber wieso konnte mein Onkel dann sagen, daß…?«
»Haben S’ vielleicht in den Unterlagen Ihrer Mutter irgendwas gefunden, das uns einen weiteren Hinweis geben kann?« forschte der Bergpfarrer nach. »Sie sagten, Ihre Mutter hätte das Grab pflegen lassen. Da muß es doch irgendwas geben; Rechnungen vielleicht, einen Vertrag sogar, der das Ganze regelt.«
Carla versuchte, sich zu erinnern.
Nein, da war nichts, was sie übersehen hatte. Ein solcher Vertrag wäre ihr doch bestimmt aufgefallen, nachdem die Eltern alles so ordentlich abgelegt und aufbewahrt hatten.
»Nun, ich denk’, daß wir dieses Problem net sofort werden lösen können«, meinte der Geistliche. »Aber wir geh’n gleich einmal in die Kirche hinüber. In der Sakristei befindet sich das Archiv. Dort werden wir nachschau’n, ob wir etwas finden. Außerdem würd’ ich vorschlagen, daß wir einen Besuch auf dem Hornbacherhof machen;