Natürlich konnte das Max nicht verborgen bleiben.
»Was ist denn los?« fragte er seinen Bruder.
Sebastian schaute den Kiesweg hinunter. Jetzt würden wohl keine Leute mehr kommen. Die Kirche war, wie jeden Sonntag, gut besucht. Allerdings vermißte der Geistliche die Familie Reindl unter den Gläubigen.
»Wir müssen uns nachher unterhalten«, sagte er zu Max.
»Was gibt’s denn?« wollte der Polizist wissen. »Du scheinst mir irgendwie… durcheinander.«
»Das wärst du auch, wenn du wüßtest, was ich eben erfahren hab’.«
Die Gestalt des Bergpfarrers straffte sich.
»Es wird Zeit«, murmelte er und eilte durch das Seitenschiff in die Sakristei.
Ein Glöckchen ertönte, dann schritten sie zum Altar.
Während er die Messe zelebrierte, versuchte Sebastian die düsteren Gedanken, die er immer noch hatte, zu verbannen. Doch so recht wollte es ihm nicht gelingen. Indes konzentrierte er sich jetzt auf die Predigt, und die Gemeinde schien ihren ›alten‹ Seelsorger zurückzuhaben.
Mit Erleichterung sah Sebastian, daß kurz nach dem Beginn des Hochamtes die Tür geöffnet wurde, und Friedrich Reindl und seine Familie auf Zehenspitzen hereinkamen. Offenbar hatten sie sich verspätet.
Jetzt fehlte nur noch Adrian Greininger, doch der zog es wohl vor, auf den Kirchgang zu verzichten.
Der Geistliche überlegte, ob er den Reindlbauern zu einem Gespräch ins Pfarrhaus bitten sollte. Doch dann verwarf er diesen Gedanken wieder. Vielleicht war es noch zu früh, ihn mit den Vorwürfen zu konfrontieren. Die Beweise, die Adrian mit sich führte, mußten noch einmal sorgfältig und in Ruhe geprüft werden.
Noch vor dem Mittagessen sprach Sebastian jedoch mit seinem Bruder. Max war nicht weniger entsetzt, als er hörte, was sich seinerzeit abgespielt hatte.
»Himmel, das ist ja schon verbrecherisch!« entfuhr es dem Polizisten.
»Wenn das alles stimmt, dann ja«, nickte der Geistliche. »Aber ich kann’s mir eigentlich net vorstellen. So etwas kann sich der Reindlblauer doch net allein ausgedacht haben. Da stecken doch noch ganz andere dahinter.«
Max zog die Stirn kraus.
»Wenn’s sich allerdings bewahrheitet, dann komm ich net umhin, die Sache zur Anzeige zu bringen. Ich frag’ mich sowieso, warum Adrian mit seinen Beweisen net gleich zur Polizei gegangen ist.«
»Dafür gibt’s wohl eine Erklärung«, erwiderte sein Bruder. »Zum einen war er zu jung damals, um die Hintergründe zu durchschauen. Als er dann alles verstanden hat, da ist in ihm der Wunsch wachgeworden, es denen zu zeigen, die er für sein Schicksal verantwortlich macht. Er hat sich genau überlegt, wie seine Rache aussehen soll, deshalb ist er ja auch unter falschem Namen im Löwen abgestiegen.«
Sebastian blickte Max an.
»Du erinnerst dich an das Buch, das wir früher, als wir Buben waren, verschlungen haben?«
Der junge Polizeibeamte schmunzelte.
»Du meinst ›Der Graf von Monte Christo‹?«
»Ja. Auch Adrian kennt die Geschichte um den Mann, der um sein Leben betrogen worden ist und der dann zurückkehrt als reicher Mann, um sich an denen zu rächen, die dafür verantwortlich sind. Und vielleicht fühlt er sich genauso wie der Graf, der in seiner blinden Rache vor nichts zurückschreckt.«
»Ich würde diese Beweise gern’ mal in Augenschein nehmen«, sagte Max.
Sebastian schüttelte den Kopf.
»Das wird Adrian net gestatten. Es hat mich schon viel Überredung gekostet, damit ich sie einsehen durfte. Er mißtraut allen.«
»Was wirst du jetzt unternehmen?« wollte Max wissen.
Der Bergpfarrer zog die Schultern hoch.
»Das weiß ich ehrlich gesagt net«, antwortete er und wirkte so ratlos wie nie zuvor.
*
Nach dem Besuch des Geistlichen war Adrian nicht wieder ins Bett gegangen. Zu aufgewühlt hatte ihn das Gespräch.
Welch ein Gegensatz zu gestern abend!
Da hatten sie noch freundschaftlich miteinander geplaudert. Heute morgen war es eher ein Streitgespräch gewesen.
Das Frühstück wollte ihm nicht schmecken, und er trank nur Kaffee. Mit seinen Gedanken war er bei Tina. Immer noch spürte er die Küsse, die sie getauscht hatten, und das Glück, das er dabei empfunden hatte.
Heute nachmittag sollte er zu ihr kommen. Wahrscheinlich würde sich jeder junge Mann über so eine Einladung gefreut haben. Doch Adrian war voller zwiespältiger Gefühle.
Wie würde er reagieren, wenn er ihrem Vater gegenüberstand? Konnte er sich zurückhalten, ohne ihm seine Verachtung ins Gesicht zu schleudern?
Adrian verließ das Hotel und wanderte durch das Dorf. Einmal war er versucht, zur Kirche hinüberzugehen. Noch war die Sonntagsmesse nicht zu Ende, und vielleicht würde ein nochmaliges Gespräch mit Pfarrer Trenker ihm Klarheit darüber verschaffen, was er machen sollte.
Doch dann besuchte er nur das Grab der Eltern und ging anschließend zum Parkplatz. Als er aus dem Dorf hinausfuhr, läuteten die Glocken, und die ersten Kirchgänger kamen den Kiesweg herunter.
Er hatte es nicht beabsichtigt, doch plötzlich merkte er, daß er sich auf dem Weg zum Greiningerhof befand. Wie schon beim ersten Mal spürte er das Herzklopfen und einen dicken Kloß in seinem Hals, den hinunterzuschlucken ihm unmöglich war.
Diesmal hielt er direkt vor der Einfahrt an. Ein Hund, der neben der Scheune in seiner Hütte döste, hob kurz den Kopf und schloß dann wieder die Augen.
Adrian dachte an ›Bino‹, den Mischlingsrüden, der früher auf dem Hof gelebt hatte, und er fragte sich, was aus ihm geworden war. Wenn er noch lebte, dann mußte er jetzt uralt sein.
Im selben Moment ertönte ein Jaulen, und hinter der Scheune schoß ein brauner Blitz hervor. Der andere Hund in der Hütte sprang auf und folgte seinem Artgenossen.
»Bino!« entfuhr es Adrian.
Er war es tatsächlich!
»Mein Gott, du lebst noch«, murmelte er unter Tränen, während er dem Hund das Fell kraulte.
Ja, er war alt geworden, der Mischling, aber er hatte ihn nicht vergessen.
»Und wer bist du?«
Adrian strich dem anderen Tier über den Kopf. Da Bino den Fremden so freundlich begrüßte, mußte wohl alles in Ordnung sein.
Er hatte sich niedergekniet und klopfte dem Rüden auf die Brust. Bino wälzte sich auf dem Rücken und jaulte vor Freude.
Es schien, als wären sie keinen Tag getrennt gewesen.
Doch dann wurde Adrian bewußt, daß der Reindlbauer und seine Familie jeden Moment zurückkommen würden. Noch sollten sie ihn hier nicht antreffen, und er setzte sich wieder in seinen Wagen, nachdem er die Hunde auf den Hof geschickt hatte.
Ziellos fuhr er umher und kehrte schließlich nach St. Johann zurück. Im Hotel aß er eine Kleinigkeit und ging dann in seine Suite. Die Einladung war für den Nachmittag ausgesprochen worden. Adrian griff zum Telefon und erkundigte sich, ob es möglich wäre, daß man ihm einen Blumenstrauß besorge. Das Madl an der Rezeption versicherte, daß es kein Problem sei. Zufrieden legte er auf und betrachtete den schwarzen Lederkoffer mit seinem brisanten Inhalt. Sollte er ihn mitnehmen?
Aber dann würde alles zu Ende sein, bevor es richtig begonnen hatte.
Aber wie sollte es so weitergehen?
Er konnte sich doch nicht bis in alle Ewigkeit für jemanden ausgeben, der er gar nicht