Es waren noch sechs Straßen bis zum Institut und als Leon drei Kreuzungen hinter sich gebracht hatte, war die Menge so dicht geworden, dass er kaum noch vorankam. Er drängte sich an einer Gruppe älterer Frauen vorbei, die im Alter seiner Mutter waren. Sie hätten Freundinnen von ihr sein können.
Viele von ihnen kamen offensichtlich von außerhalb, hatten Gepäck und Schlafsäcke dabei. Er schüttelte frustriert den Kopf. Das war nicht nur ein lokaler Protest und er würde auch nicht über Nacht verschwinden, wenn die Leute aus dem Umland angereist waren.
Inmitten der Sprechchöre und des Drucks der Menge sprang er auf die Stoßstange eines Autos und spähte zum Institut hinüber. Eine Absperrung aus humanen und robotischen Polizisten umgab das Gebäude.
Leon hüpfte wieder herunter und holte sich einen Livebericht eines Bloggers über die Demo aus dem Netz. Er sah ihn sich an, während er durch eine kleine Seitenstraße ging, auf dem Weg zur nächsten Kreuzung. Das Institut teilte sich den Block mit einem anderen Universitätsgebäude, in dem der Fachbereich ›Internationale Beziehungen‹ untergebracht war. Ein gemeinsamer Innenhof, von der Straße nicht einsehbar, verband die beiden.
An der nächsten Kreuzung war die Menge weniger dicht, aber es gab einen stetigen Zustrom neuer Unterstützer. Der Livebericht in seinem Augenwinkel zeigte Demonstranten, die gegen die Polizeiabsperrung anliefen. Im Stream konnte er auch die Sicherheitsmitarbeiter des Instituts hinter der Glastür des Gebäudes erkennen. Die beiden dünnen Verteidigungslinien wirkten dürftig gegenüber der rasch anwachsenden Menschenmenge.
Leon hatte ernste Zweifel, ob er wirklich zur Arbeit gehen sollte. Er schickte ein Ping an Mike, um dessen Standort zu erfahren, erhielt aber keine Antwort. Er versuchte es über die lokalen Netzwerkknoten, aber sie waren träge, von der Flut der Menschen überfordert. Selbst der Live-Stream büßte bereits an Qualität ein. Er hielt für einen Augenblick an und entschied, dass es verrückt wäre weiterzugehen. Er würde stattdessen versuchen, Mike von zuhause aus zu erreichen. Er wandte sich um, blieb aber abrupt stehen und kämpfte gegen den Drang an, vor den Hunderten von entgegenkommenden Menschen davonzulaufen und sich irgendwo zu verstecken. Würden die Leute ihn erkennen? Rebecca schien es zu glauben. Er konnte nicht einfach durch die Menge spazieren. Wenn auch nur einer ihn erkennen würde, würden sie ihn angreifen.
Widerwillig kehrte Leon um und ging auf das Institut zu. Es schien ihm die weniger riskante Option. Er kämpfte sich nach vorne, hielt sein Gesicht in dieselbe Blickrichtung wie die Menge. Wenigstens war das Foto von ihm, das sie ins Netz gestellt hatten, ein über drei Jahre alter Schnappschuss. Er sah jetzt anders aus oder er hoffte es zumindest. Schließlich erreichte er das Gebäude für ›Internationale Beziehungen‹ und ging zur Eingangstür. Die Sicherheitskräfte waren verdoppelt worden und die Polizei stand bereit, um sie zu unterstützen.
Er zeigte seine ID und ließ sie sein Neuralimplantat scannen, dann überprüfte die Wache seine Tasche. »Es wird nicht lange dauern, bis die Menge herausfindet, dass man hier durchschlüpfen kann.« Er gab ihm seine Tasche zurück. »Sie wollen sicher nicht den ganzen Tag da drin verbringen.«
Leon nickte und eilte durch das Gebäude auf den Innenhof zu. Er überquerte den Platz, eine einfache Betonfläche mit ein paar Bäumen in Pflanzkübeln. Von draußen konnte er immer noch die Sprechchöre der Menge hören.
An die Hintertür zeigte er mental seine ID und betrat das ruhige Innere des Instituts. Wenigstens hier, auf der Rückseite des Gebäudes, konnte er die Demonstranten kaum hören.
Zwei Sicherheitsmitarbeiter und ein Polizist warteten an der Tür. Sie wiederholten den ID-Scan und untersuchten erneut seine Tasche.
»Sie wissen schon, dass sie da draußen auch ihren Namen rufen?«, fragte ihn eine der Wachen.
»Ja, das weiß ich«, seufzte Leon. Was brachte die Menschen nur zu so einem Wahnsinn?
»Sie können reingehen, aber es wird erwartet, dass die Menge weiter anwächst. Und irgendwann werden sie dann den Hintereingang entdecken.«
Er nickte wieder, schnappte sich seine Tasche und rannte die Treppe hinauf, platzte ins Hauptbüro hinein. Dort befanden sich höchstens ein Viertel der Leute, die man normalerweise dort antraf. Sie hatten sich in der Mitte des Raumes versammelt.
Er wurde von einer bedeutsamen Stille empfangen statt mit den üblichen freundlichen Begrüßungen. Nicht eine einzige ›Hallo‹-Blase erschien in seinem Gesichtsfeld. Nach ein paar Sekunden kam ein Forscher aus der Gruppe auf ihn zu. Leon erinnerte sich, dass er aus der Abteilung für Schulpädagogik kam. Schnell zog er sich seinen Infobogen aus dem Netz. Der Name des Mannes war Miles.
»Was wollen Sie dagegen tun?«, verlangte Miles von ihm zu wissen.
Leon sah alle an und dachte einen Augenblick nach. Er mochte technische Probleme, keine menschlichen Probleme.
»Geht alle nach Hause. Benutzt dabei das Gebäude für ›Internationale Beziehungen‹, bevor die Menge noch größer wird. Geht in Zweier- oder Dreiergruppen raus. Und kommt keinesfalls zurück, bevor die Proteste beendet sind.«
»Was ist mit meiner Arbeit?«, protestierte eine der Frauen. »Ich verhandle gerade wegen der Staatsbürgerschaft für KIs in Brasilien, wegen der bevorstehenden Wahlen.«
»Ich sage ja nicht, dass ihr nicht weiterarbeiten sollt«, sagte Leon. Er zwang sich zu einem Lächeln und versuchte eine Ruhe auszustrahlen, die er selbst nicht fühlte. »Arbeitet von zuhause aus, so wie sie es in großen Firmen machen. Ich weiß, dass wir alle gerne hierher kommen, weil die Bandbreite höher ist und wir uns besser austauschen können. Aber so arbeiten die meisten IT-Leute doch gar nicht mehr. Und es ist ja auch nur für ein paar Tage, bis dieses … was immer es auch ist, sich erledigt hat.«
Es gab ein wenig Murren, aber die Leute begannen, ihre Sachen zu packen.
Ein blauer Roboter namens Sawyer kam herangefahren. »Empfehlen Sie uns, ebenfalls nach Hause zu gehen?«
Ein Bot namens Sharp gesellte sich zu ihnen. »Ich habe gar kein Zuhause. Ich lebe hier im Institut.«
Leons Magen krampfte sich zusammen bei dem Gedanken an all die Bots und KIs im Gebäude. »Geht besser nicht nach draußen. Dort ist es nicht sicher.« Er überlegte kurz, zum Fenster zu gehen und einen Blick nach unten zu werfen, aber ihm wurde klar, dass das ein Fehler wäre. Jemand könnte ihn erkennen. »Wisst ihr, ob Mike hier ist?«
»In seinem Büro«, antwortete Sawyer.
»Alles klar. Ich muss dringend mit ihm sprechen. Ihr zwei solltet weitere Optionen prüfen. Vermutlich seid ihr hier sicher, wenn wir das Gebäude abriegeln. Aber es wäre gut, für einen Helikopter zu sorgen, der auf dem Dach landen kann, um notfalls alle KIs zu evakuieren.«
Leon dachte an das kleine Rechenzentrum im Keller, das etwa einhundert KI-Mitarbeiter beherbergte. »Sawyer, jeder der Virtuellen sollte zu einem anderen Rechenzentrum wechseln.«
»Sie versuchen es«, antwortete der Bot. »Aber wir liegen unter einer DDoS-Attacke. Die Bandbreite rein und raus ist stark reduziert.«
»Verdammt. Tut, was ihr könnt. Ich muss mit Mike sprechen.« Leon lief zum Gemeinschaftsbüro und riss die Tür auf. Auf der Schwelle blieb er stehen und rief zurück: »Sorgt dafür, dass der Helikopter einen transportablen Massendatenspeicher anliefert, und macht Kopien von allen hier beheimateten KIs.«
Er betrat das Büro und ließ die Tür hinter sich zufallen. Mike war ganz konzentriert. Sein Status war ›im Telefonat‹. Leon schickte eine Prioritätsnachricht, um ihn wissen zu lassen, dass er eingetroffen war.
Mike hob einen Finger und Leon setzte sich, um zu warten.
Sekunden später stand Mike auf. »Ich habe es geschafft, eine Verbindung auf niedriger Bandbreite mit Rebecca zu bekommen. Sie sagt, dass die Menschenrechtspartei von ihren Führern angestachelt wurde und die Proteste vermutlich fortgesetzt werden.«
»Wie konnte die Sache so schnell außer Kontrolle geraten?«, fragte Leon. »Vor