Sie stand immer noch unentschlossen da, als das Geräusch von Polizeisirenen durch die Bäume zu ihr drang. War die Polizei hierher unterwegs? Hatte der Bot sie gerufen, sobald er außerhalb der Reichweite des Störsenders war? Würde sie Ärger bekommen, weil sie mit den Männern gekämpft hatte?
Plötzlich bemerkte sie, dass sich keiner der Männer, die sie mit ihrem Implantat angegriffen hatte, noch bewegte. Sie ignorierte den Mann mit dem gebrochenen Bein, denn seine Schreie bewiesen, dass er noch unter den Lebenden weilte. Sie lief zu einem der anderen hinüber und prüfte sein Implantat, während sie nach seinem Puls fühlte. Er hatte keinen und sein Chip zeigte keine Resonanz. Sie lief zu dem Mann im roten Sweatshirt und fand ihn im selben Zustand.
So eine Scheiße. Sie hatte die Männer getötet.
Der Klang der Sirenen wurde jetzt lauter.
Sie trennte sich vom Netz, sodass sie nicht geortet werden konnte, wandte sich um und rannte.
Kapitel 7
Leon sah zu Rebecca Smith hinüber, die ihm gegenüber am Konferenztisch saß. Die frühere Präsidentin sah grau und hart aus, nicht so sehr wie ein Schatten ihres früheren Selbst, eher schon wie ein Baum, der unter extremen klimatischen Bedingungen gewachsen war. Sie wirkte fest und sturmerprobt. Widerstandsfähig.
»Mike, du verstehst die politischen Realitäten nicht«, sagte sie. »Die Menschenrechtspartei will nicht, dass es KIs überhaupt gibt.«
»Was denken die eigentlich, wie wir das anstellen sollen?«, fragte Mike und seine Stimme hob sich dabei. »Denken die, es genügt, ein paar Computer abzuschalten und die KIs verschwinden von allein? Warum kocht das gerade jetzt hoch?«
Leon blinzelte und lehnte sich unbehaglich zurück. Rebecca war die Präsidentin der Vereinigten Staaten gewesen. Sie hatte das Institut durch eine präsidiale Order gegründet. Dass Mike sie anschrie, machte ihn nervös. Und was noch schlimmer war, sie schien verstört zu sein. Ein Zustand, in dem er sie noch nie zuvor gesehen hatte.
»So weit denken die gar nicht. Sie machen die KIs für den Mangel an Arbeitsplätzen verantwortlich und im gleichen Atemzug das Institut für die KIs. Und als die prominentesten Mitglieder des Instituts steht ihr beide im Fokus ihrer Anschuldigungen. Warum gerade jetzt, darüber bin ich mir auch nicht im Klaren.« Rebecca schüttelte müde den Kopf. »Senator Watson führt die Gruppe an. Es könnte ein langfristiges politisches Manöver sein. Vielleicht plant er, sich für die Präsidentschaft in Stellung zu bringen.«
»Aber was haben Mike und ich angeblich getan?«, fragte Leon. »Künstliche Intelligenz ist eine unvermeidliche Konsequenz bei ständig wachsender Rechenleistung. Eine KI der Klasse I kann mittlerweile auf einer Handvoll Prozessoren laufen. Im Grunde kann jeder so einen Versuch im eigenen Hobbykeller durchführen.«
»Leon, mich musst du nicht überzeugen«, sagte Rebecca und tätschelte ihm den Handrücken. »Ihr seid verdammt clever. Jeder von euch hat die menschliche Gesellschaft vor ihrer Zerstörung durch KIs bewahrt. Was noch wichtiger ist: Ihr habt die dritte Generation von KIs entwickelt, um weitere Probleme von vorneherein zu vermeiden. Was ihr geleistet habt, grenzt beinahe an ein Wunder.« Rebecca lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Aber ihr seht die menschliche Seite des Problems nicht. Fünfzig Prozent der amerikanischen Bevölkerung sind arbeitslos.«
»Ich verstehe das, Rebecca, wirklich.« Mike erhob sich und ging rastlos auf und ab. »Aber es gibt keine materielle Not mehr. Die Preise der Waren sind niedrig. Wir haben ein bedingungsloses Grundeinkommen. Wir haben die Armut besiegt. Es gibt keinen Hunger mehr.« Er warf Rebecca einen flehentlichen Blick zu.
»Ihr habt die ökonomischen Probleme gelöst, das ist wahr.« Rebecca nickte. »Menschen müssen nicht mehr arbeiten. Aber ihr verkennt die dadurch entstehende Existenzangst: Die Menschen wissen nichts mit sich anzufangen.«
»Sie können lernen, lesen und sich künstlerisch betätigen«, sagte Leon. »Sie können die Welt für sich entdecken.« Trotz seiner Worte fühlte er eine wachsende Unsicherheit. Er wollte die KI-Revolution als Allheilmittel sehen, aber tief in seinem Inneren hatte er ähnliche Zweifel.
»Ihr zwei tut diese Dinge, weil ihr Menschen seid, die zu jeder Zeit und in jeder Situation ein erfülltes Leben haben können. Außerdem habt ihr euch mit Menschen umgeben, die so denken wie ihr. Ich leugne auch gar nicht, dass viele Menschen zufrieden sind. Aber leider eben nicht alle.«
»Es ist das Wikipedia-Dilemma«, sagte Mike sanft, der am Innenfenster stand und zusah, wie Roboter und Menschen an einem Tisch zusammenarbeiteten. Rebecca nickte abgelenkt, ihre Augen gingen hin und her, während sie irgendetwas im Netz las.
»Was für ein Dilemma ist das?«, fragte Leon.
»Vor langer Zeit wies ein Mann namens Clay Shirky einmal darauf hin, dass es etwa einhundert Millionen Stunden dauert, um so etwas wie Wikipedia aufzubauen. Erinnerst du dich an Wikipedia?« Er sah Leon an.
»Klar doch. Ich habe Geschichtskurse gehabt. Ich war schließlich auf dem College.«
»Shirky machte deutlich, dass wir Amerikaner an einem einzigen Wochenende etwa eine Million Stunden Fernsehwerbung anschauen. Mit anderen Worten: Wir könnten jede Woche ein weiteres Projekt von der Größe Wikipedias angehen. Aber wir tun es nicht, weil viele Menschen anders ticken. Sie verbringen keine Zeit mit Lesen oder schöpferischen Tätigkeiten. Sie konsumieren einfach nur passiv.«
»Dieses Vorurteil ist doch schon seit Jahren vom Tisch«, entgegnete Leon. »Dafür haben wir doch das Collegestipendium eingeführt, das aus der Einkommensteuer der KIs gegenfinanziert wird. Damit haben wir allen Menschen die Möglichkeit gegeben, sich weiterzuentwickeln.«
»Es hat nicht funktioniert«, sagte Rebecca mit scharfer Stimme. »Klar, manchen hilft es. Aber den meisten Menschen geht es gar nicht um Selbstoptimierung. Wenn man einhundert Millionen Arbeitslose hat, erzeugt das eine Menge Unzufriedenheit. Es ist sogar die Grundlage einer kompletten politischen Bewegung.« Mit sanfterer Stimme fuhr sie fort: »Und so weit es diese Leute angeht, seid ihr zwei die Ursache.«
»Und was sollen wir dagegen tun?«, fragte Leon. »Wir sind Forscher und keine Soziologen.«
»Ich verlange nicht von euch, etwas zu unternehmen. Ich werde das mit dem Präsidenten diskutieren und ihn dazu bringen, vor dem Kongress zu sprechen. Ich möchte von euch nur, dass ihr im Hintergrund bleibt. Haltet euch bedeckt.«
Leon sah sich um. »Die meisten Menschen kennen uns doch gar nicht. Ich spreche ständig Frauen auf der Straße an, aber keine von ihnen hat mich je erkannt.«
»So gut aussehend bist du eben nicht«, sagte Mike mit einem frechen Grinsen.
Leon schlug ihn auf den Arm.
»Ihr solltet das nicht auf die leichte Schulter nehmen, sagte Rebecca. »Geht bitte jedem Ärger aus dem Weg.«
Leon nickte ernsthaft.
Kapitel 8
Frank ging auf das Bürogebäude zu. Er hatte die alte Lederaktentasche seines Vaters in der einen und einen Coffee-to-go in der anderen Hand. Als die Gebäude-KI sein Implantat abfragen wollte, wies er sich ordnungsgemäß aus. Die Sicherheitstüren öffneten sich und gewährten ihm Zugang zur Schleuse. Hinter ihm schlossen sich die Türen wieder, die Schlösser schnappten zu. Kameras drehten sich und zoomten ihn heran.
Frank seufzte, während er wartete. Als ob seine ID gefälscht werden könnte. Er spürte das abgenutzte Leder der Aktentasche in seiner Hand. Die Naht, die am Griff ein wenig hervortrat, war eine ebenso vertraute wie komfortable Irritation. Als er einen Schluck Kaffee nehmen wollte, entriegelte die KI die Eingangstür.
»Guten Morgen, Mr. Nelson«, sagte eine unpersönliche Stimme. »Bitte treten Sie ein.«
Er nickte dem Gebäude zu, fasste seine Aktentasche fester und trat ein. Als er über die Schwelle getreten war, drehte sich die