»Lass uns nach San Diego fahren. Gleich morgen.« Er sah Leon an. »Geht das?«
»Klar, aber wäre es nicht besser, erst einmal hier zu recherchieren? Sehen wir doch Sonjas Dateien durch. Mal sehen, was sie bisher herausgefunden hat.«
»Das können wir auch von unterwegs machen.« Mike runzelte wegen Leons Unentschlossenheit die Stirn. »Wir können doch nicht jeden im Büro darauf ansprechen.«
»Aber sie könnte mit anderen Leuten im Institut darüber gesprochen haben. Außerdem müssen wir dringend mit Shizoko reden, dieser KI, die die Morde entdeckt hat. Er ist eine Klasse IV, also können wir nicht so einfach direkt mit ihm sprechen. Wir werden Filter brauchen.«
Mike spielte mit dem Essen auf seinem Teller. Leon hatte vermutlich recht. Die KIs waren zunehmend schwieriger einzuschätzen, wenn ihre Intelligenz wuchs. Es war eigentlich keine Sprachbarriere, denn sie sprachen perfektes Englisch. Aber sie kommunizierten in Form von Konzepten und Modellen, die Menschen oft nicht einmal ansatzweise verstehen konnten. Eine KI der Klasse IV würde lieber ein komplettes Neuralnetzwerk weitergeben, als sich die Mühe zu machen, einen Sachverhalt in englischer Sprache auszudrücken. Das Institut hatte spezielle Filtersoftware für solche Fälle, die die Interspezieskommunikation vereinfachen konnte.
»Du hast ja recht«, stimmte er widerwillig. »Wir gehen gleich Morgen früh ins Institut, sprechen mit den Mitarbeitern und dann mit dieser KI. Aber danach nehmen wir den Abendflug.«
Kapitel 10
Cat wartete am Seitenstreifen der I-5. Um zwei Uhr morgens gab es kaum humanen Straßenverkehr. Ihr Gesicht und ihr Bauch schmerzten noch von den Schlägen. Cat fand es weitaus angenehmer, sich auf diesen Schmerz zu konzentrieren, als über das nachzudenken, was sie getan hatte. Sie hatte nur versucht, diesen Roboter zu verteidigen. Sie zwang sich dazu, nicht in Tränen auszubrechen.
In den letzten Stunden war es ihr leicht gefallen, der Polizei aus dem Weg zu gehen. So leicht, dass es fast schon ein wenig beängstigend war. Sie konnte sie im Netz kommen und gehen sehen, weil die Autopiloten ihrer Wagen sie verrieten, bevor sie auch nur in ihre Nähe gerieten. Und sie wusste, wie sie mit ihrem Implantat im anonymen Modus blieb, sodass niemand sie orten konnte.
Aber sie wusste nicht, wohin sie gehen sollte. Nicht nach Hause. Und sie wollte sich auch nicht der Polizei stellen. Menschen, die ins Gefängnis kamen, waren nicht mehr die gleichen, wenn sie wieder zurückkehrten. Es war auch nicht sicher, ob die Polizei überhaupt wusste, dass sie es gewesen war. Allerdings war ihr Implantat aktiv gewesen, als sie den Park betreten hatte. Sie würden über alle Nachforschungen anstellen, die in der Gegend gewesen waren. Sie musste davon ausgehen, dass auch sie eine Verdächtige war.
Sie brauchte einen Ort und Zeit, um über alles nachzudenken und zu planen, aber das würde sie beides in Portland nicht bekommen. Für eine Weile konnte sie die Polizei meiden, aber es würden Listen mit den Fotos der Verdächtigen über das Netz verbreitet werden. Irgendwann würde man sie erkennen. Sicher würde es keine landesweite Menschenjagd wegen ein paar Schlägern geben, die bei einem Kampf gestorben waren. Wenn sie nur weit genug wegging, war es weniger wahrscheinlich, dass man sie erkennen würde. Es war also entschieden: Sie musste fort.
Sie sah sich nach einem automatisierten LKW um, der nach Süden fuhr. Sie hatte so etwas noch nie gemacht, aber vielleicht konnte sie einen der Lastwagen mit ihrem Implantat entführen.
Sie tauchte in das Netz ein. Als ein Laster sich näherte, schloss sie die Augen und konzentrierte sich auf ihn. Mental betätigte sie einige Schalter im Cyberspace, bis sie spürte, wie die Bremsen ausgelöst wurden. Sie probierte intuitiv noch Verschiedenes aus, bis sie die Geschwindigkeitsanzeige und die GPS-Daten gefunden hatte und manipulierte den gesamten Datensatz so, dass es aussah, als wäre das Fahrzeug noch in Bewegung. Als der LKW direkt vor ihr hielt, entriegelte sie die Türen und kletterte ins leere Führerhaus. Sie ließ ihn wieder Fahrt aufnehmen und gab eine Reihe Kommandos ein, die nach und nach die Telemetrie der Geschwindigkeitsanzeige und der GPS-Daten wieder synchronisierten. Der Stopp würde unbemerkt bleiben.
Aus dem Inneren der großen, leeren Kabine beobachtete sie wie betäubt, wie die Straße an ihr vorüberzog.
Ihr ganzes Leben hatte sie versucht, das Richtige zu tun. Den automatisierten LKW zu entführen war leicht gewesen. Ebenso leicht war es, den Behörden aus dem Weg zu gehen. Der Gedanke an die Polizei brachte aber auch die Bilder der toten Männer zurück und ihr wurde übel. Sie rollte sich zusammen und wickelte sich in ihre dünne Jacke. Wohin konnte sie gehen? Ihre Mutter war seit drei Jahren tot, ihr Vater seit neun Jahren verschwunden. Seitdem hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Ihre Männerbekanntschaften blieben nie lange , weil sie sich mit ihrem Implantat nicht mit ihnen verlinken konnte. Ihre einzigen Freunde auf der ganzen Welt waren bei ihr Zuhause, aber dorthin konnte sie jetzt nicht gehen.
Die Einsamkeit und die Angst schlugen so hohe Wellen in ihr, dass es ihr schwerfiel zu denken oder auch nur zu atmen. Sie saß zitternd vor Kälte in einem fast katatonen Zustand, bis die Geräusche der Straße und das Aufflackern der Scheinwerfer des passierenden Verkehrs sie in den Schlaf wiegten.
Als sie erwachte, ging die Sonne gerade auf und der Sattelzug überquerte die Grenze nach Kalifornien. Sie brachte ihn kurz zum Stehen, um sich am Straßenrand zu erleichtern. Als sie wieder in die Kabine kletterte, nahm der Autopilot seine vorbestimmte Route wieder auf.
Sie prüfte die Wegmarken in der Navigationssoftware und stellte fest, dass der Lastwagen nach San Diego unterwegs war. Sie ließ die immergrünen Bäume vorbeiziehen und entwickelte nach und nach einen Plan. Sie würde den Lkw weiterfahren lassen, selbst aber in San Francisco aussteigen. Die Stadt war groß, ein Ort, an dem sie sich eine Weile verstecken konnte.
Cat fügte einen falschen Lieferstopp in Menlo Park hinzu. Stunden später, um die Mittagszeit, wurde der Laster langsamer und verließ den Highway. Als er zum Stehen kam, kletterte sie aus dem Führerhaus. Sie fügte einen letzten Satz Datenpakete ein, veränderte noch einmal die GPS-Koordinaten, um den ungeplanten Zwischenstopp zu verschleiern. Der LKW wechselte die Fahrbahn und fuhr auf den Highway zurück.
Sie brauchte einen Waschraum, Wasser und etwas zu Essen, ungefähr in dieser Reihenfolge. Als sie die Auffahrt hinunter lief, bemerkte sie erschrocken, wie wenig sie bei sich hatte. Sie hatte ihr Haus ohne einen konkreten Plan verlassen, wollte nur weg von Sarah, und hatte nicht viel mehr als die Kleider, die sie am Leib trug.
Nicht weit von der Auffahrt entfernt entdeckte sie eine Raststätte für Trucker. Die Blicke der weißhaarigen Bedienung ignorierend, ging sie direkt nach hinten in den Waschraum. Nachdem sie die Toilette benutzt hatte, sah sie in den Spiegel. Ihre Jeans und ihr T-Shirt waren verknittert, weil sie in ihnen geschlafen hatte und ihr Haar war eine Katastrophe. Sie wusch sich das Gesicht und fuhr mit nassen Fingern durch ihr Haar. Als sie sich wieder präsentabel fühlte, ging sie zurück ins Restaurant.
Die Bedienung sah sie erwartungsvoll an. »Hast du Bargeld, Schätzchen?«
Cat holte tief Luft. »Ich habe ein Implantat«, begann sie ein wenig beleidigt, aber verstummte dann frustriert. Sie brauchte dringend einen Kaffee und konnte nicht klar denken, aber sie durfte ihre ID nicht benutzen oder man würde sie orten können.
»Nein. Ich komme noch mal wieder.«
»Alles klar, Kleines. Komm zurück, wenn du Geld hast.«
Mit peinlich gerötetem Gesicht wandte Cat sich ab und ging zur Tür. Der Geruch von Eiern, Speck und Kaffee brachte ihren Magen zum Knurren und ließ ihr fast die Tränen in die Augen steigen. Draußen sah sie zum Restaurant zurück. Bei dem Gedanken an einen vollen Teller lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Sie ging ein Stück die Straße hinunter. Sie war zwölf Stunden und gut 1100 Kilometer weit weg von zuhause, auf der Flucht, ohne Zugang zu Geld und mit nichts, was sie hätte eintauschen können. Was zum Teufel hatte sie sich nur dabei gedacht?
Cat erinnerte sich plötzlich daran, dass Einstein zuhause war. Ihre Mutter hatte ihr den Hund geschenkt, bevor sie gestorben war. Der intensive Wunsch nach ihrem Welpum,