Sonja schob einen Todesfall in den Vordergrund und er tauchte im Netz vor ihnen auf.
»Hier stürzte eine Frau in ihrer Küche und zog sich Kopfverletzungen zu. Andere jedoch sind definitiv Morde.«
»Wo ist die Verbindung?«, fragte Leon. Trotz der Informationen von Sonja und den Terabytes an Daten vor seiner Nase konnte er das große Ganze nicht erkennen.
»Wie ich schon erwähnte«, presste Sonja langsam zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »schien es zunächst keine Verbindung zu geben. Aber ein Techniker für Internetdatentransfer wies uns auf einige Übereinstimmungen hin. Er heißt Shizoko Reynolds. Er entdeckte, dass bei allen Opfern extreme Breitbandtransfers über ihre Implantate stattfanden, jeweils im Zeitraum von fünf bis fünfzehn Minuten vor ihrem Tod.«
Leon fühlte, wie sein Magen sich zusammenzog. Er sah zur Seite und bemerkte , dass auch Mike aschfahl geworden war. Mord durch Gehirnimplantate? So etwas war noch nie geschehen. Mehr als drei Viertel der Weltbevölkerung besaß ein Neuralimplantat. Wenn sie wirklich alle angreifbar waren …
»Wie hoch ist der Anteil der Fälle, die offensichtlich Morde waren?«
»Achtzehn Prozent«, sagte Sonja und wartete auf seine Reaktion.
»Also sind diese Morde nicht über das Implantat verübt worden? Warum sollte jemand physisch töten, wenn er es auf elektronischem Weg tun könnte?«
»Nein, sind sie nicht«, sagte Sonja. »Die Opfer hatten …«
»Moment«, sagte Leon, der eine Idee zu entwickeln begann. »Waren das wichtige Persönlichkeiten? Senatoren, Geschäftsmänner ? Man würde doch einen Plan B haben wollen, wenn es mit der einen Methode nicht klappt.«
»Nein!«, rief Sonja. »Was ich zu sagen versuche, ist Folgendes: Wir haben von einigen der Opfer die medizinische Telemetrie. Ihre Kortisolwerte waren deutlich über der Norm, was nahe legt, dass ihrem Tod ein qualvolles oder traumatisches Ereignis vorausging.«
»Was ist daran so ungewöhnlich?«
»Bei einem Autounfall zum Beispiel kann der Körper die Stresshormone erst gar nicht produzieren. Es geht einfach zu schnell.«
»Über wie viele Todesfälle sprechen wir hier?«, fragte Leon.
»Sechshundertdreiundachtzig, in weniger als einem Jahr.«
Leon hielt sich an der Tischkante fest. Das war nicht einfach nur eine Reihe von Todesfällen, das war Krieg im kleinen Maßstab. Gab es eine amoklaufende KI? Oder Menschen, die Gehirnimplantate hackten? Es hatte innerhalb der letzten zehn Jahre keinen Präzedenzfall gegeben. Man würde das Institut verantwortlich machen, weil sie die Bauweise der Implantate abgesegnet hatten. »Und es kann sich dabei unmöglich um Zufälle handeln?«
»Ja … nein … ich weiß es nicht.« Jetzt war es an Sonja, peinlich berührt zu sein. »Alle Beweise legen allerdings nahe, dass es sich um nicht zusammenhängende, zufällige Todesfälle handelt. Alter, ethnische Herkunft, sozialer Status, Wohnort, alles liegt innerhalb des statistischen Durchschnitts.« Sonja zeigte auf die Daten. »Nur die Mordrate liegt ein wenig über der Norm. Aber ohne den Tipp mit den hohen Bandbreiten hätten wir nie eine Verbindung zwischen den Fällen hergestellt.«
Leon spürte, wie eine Migräneattacke sich anbahnte. Er sah Mike an, der seinem Blick standhielt und wandte sich dann Sonja zu. »Dieser Netzwerktechniker, Shizoko Reynolds, wer ist das eigentlich?«
»KI der Klasse IV, irregulär körperlich, japanische Staatsbürgerschaft. Lebt in den USA, im alten Austin Convention Center, das ihm gehört.«
Leon übersetzte im Kopf die Abkürzungen: KIs der Klasse I waren ungefähr so intelligent wie Menschen. Jede weitere Klasse war um eine Zehnerpotenz intelligenter. Klasse IV waren die intelligentesten, tausendmal schlauer als ein Mensch. Was die Körperlichkeit anging, so waren manche KIs Vollzeitroboter, während andere eine komplett virtuelle Existenz führten. Ein paar wenige, so wie Shizoko, benutzten gelegentlich mechanische Körper.
Leon klopfte auf den Tisch. »Gibt es Gründe, Shizoko selbst zu verdächtigen? Wie hoch ist seine Reputation?«
»Etwa 81 Prozent«, antwortete Sonja und holte Reynolds Profil aus dem Netz in den Vordergrund. »Er ist ein Einzelgänger, sonst wäre sie vermutlich höher.«
Leon ging die Daten durch. »Wer ist an dem Fall dran?«
»Shizoko teilte seine Erkenntnisse mit dem FBI, die uns wegen des offensichtlichen KI-Aspektes mit einbezogen haben. Seit gestern ist mein gesamtes Team an dem Fall dran. Wir werden weiterhin mit dem FBI zusammenarbeiten.«
Mike sah Sonja nachdenklich an. »Schicken Sie mir ein tägliches Update.«
Kapitel 6
Catherine verlangsamte ihre Schritte nicht, bis sie ein paar Straßen vom Haus entfernt war. Sie fühlte, wie ihr heiße Tränen über das Gesicht liefen und schlang die Arme um sich. Was nützten ihr die ganze Meditation und die vielen Stunden Kampfsporttraining, wenn sie trotzdem jedes Mal ausrastete, sobald Sarah sie provozierte?
Sie sah zu dem fast vollen Mond auf. Er ließ sie an ihre Mutter denken, die bei den ersten Anzeichen von freiem Himmel und Vollmond immer auf einem Spaziergang bestanden hatte. Cat konnte einfach nicht mehr wütend sein, wenn sie an ihre Mutter dachte. Dafür waren ihr diese Erinnerungen zu kostbar.
Sie konzentrierte sich darauf, langsamer zu atmen, und begann eine Laufmeditation, bis sie spürte, dass sie ruhiger wurde. Ganz bewusst atmete sie weiter und versuchte ihren Geist zu leeren.
Als sich ihre Gedanken beruhigt hatten, dachte sie über das nach, was Sarah gesagt hatte. Menschen sollten eigentlich nicht in der Lage sein, das zu tun, was Cat mit ihrem Implantat machen konnte. Sie war bis jetzt noch nie an ihre Grenzen gegangen, aber sie konnte die Datenströme anderer Personen sehen und diese auch trennen. Sie wusste, wohin eine KI als Nächstes fahren würden. Vielleicht machte sie das wirklich zu einem Freak.
Sie überquerte die Straße und ging in den Park auf der anderen Seite. Ihr Zufluchtsort. Der Duft von nachtblühenden Pflanzen lag in der Luft. Mit ihrem Implantat führte sie eine Geruchsanalyse durch. Dem Ergebnis nach waren es Zitronenlilien. Seltsam, dass ihr das noch nie aufgefallen war.
Zunächst waren Neuralimplantate in den Vereinigten Staaten nur bei Erwachsenen erlaubt gewesen. Doch als die Vorteile innerhalb eines Jahres nach ihrer Einführung offensichtlich wurden, nahmen die Eltern, die es sich leisten konnten, ihre Kinder mit nach Übersee, um die Implantierung dort durchführen zu lassen. So aufgerüstet, hängten die wenigen Privilegierten ihre Schulkameraden schnell ab. Nachdem es dann zu einem öffentlichen Aufschrei gekommen war, hatte die Legislative es plötzlich eilig, die Gesetze zu ändern. Heute wurden die meisten Implantationen im Alter von vierzehn Jahren durchgeführt, dem offiziellen Mindestalter.
Aber Catherine hatte als Baby epileptische Anfälle gehabt. Innerhalb eines Jahres waren sie immer häufiger und schlimmer geworden, schließlich lebensbedrohlich. Keine Behandlung schien zu helfen.
Nachdem ein Arzt ihre Eltern von einer experimentellen Behandlung erzählt hatte, nahm die ganze Familie sofort ein Flugzeug nach Portland, Oregon. Obwohl damals Neuralimplantate praktisch noch unbekannt waren, erhielt Cat nur wenige Tage später eine komplette Gehirnumhüllung, die womöglich erste und einzige OP dieser Art. Das Hauptziel dieses Implantats war, Anfälle zu entdecken und sie zu unterdrücken. Aber als sie vier Jahre alt war, hatte Catherine bereits gelernt, ihr Implantat zu nutzen, um damit online zu gehen.
Sie hatte damals einen imaginären Freund namens ELOPe, der behauptete, ihr das Implantat verschafft zu haben. Als sie acht Jahre alt war, war der KI-Krieg gekommen, gefolgt vom JOI, dem ›Jahr ohne Internet‹. Als das Netz endlich wieder funktionierte, suchte Cat sofort nach ELOPe, aber er war verschwunden. Cat glaubte, dass sie die einzige Person war, die so früh ein Implantat erhalten hatte, da aber fast alle Unterlagen der Jahre