Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme. Jodocus Temme. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jodocus Temme
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027238149
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fragte weiter nach dem Knaben und dessen Verhältnissen.

      »Die Leute sind arm«, erzählte Karoline weiter.

      »Der Mann gehörte früher zu den wohlhabenderen Bauern in dem Dorfe Niederhelmern. Reiche Bauern wie in den andern Gegenden Westfalens haben wir nicht. Wir sind hier an der hessischen Grenze. Er hatte früh geheiratet. Da wurden wir im Jahre 1803 preußisch. Preußen hat immer viele Soldaten nötig — «

      »Oder auch nicht nötigt«, warf der Domherr hin.

      Karoline fuhr fort:

      »Das Erste, was nach der Besitznahme geschah, war eine Soldatenaushebung. Auch der Bauer Henke wurde ausgehoben. Er musste Frau und Kind verlassen. Die Frau war brav, aber sie konnte die Wirtschaft nicht bezwingen, wie es sein musste; die schweren preußischen Steuern kamen hinzu. Die Wirtschaft ging zurück.

      Nach drei Jahren kam zwar der Mann wieder. Er war aus der Schlacht von Jena weggelaufen mit seinem halben Regimente. Sie waren mehr vor den eigenen Offizieren und Unteroffizieren gelaufen als vor den Franzosen. Er war gerannt ohne Aufenthalt bis zu seinem Hause. Aber seine Rückkehr war kein Glück; sie war das wahre Unglück der Frau. Er kam betrunken zu Hause an; er ist seitdem bis heute nicht wieder nüchtern gewesen. Er war unter den Soldaten völlig verwildert, unter den Menschen, die gezwungen waren zu dienen, noch mehr unter all dem schlechten Gesindel, das in aller Welt sich hatte anwerben lassen. Er hatte Stockprügel erhalten, er hatte Spießruten laufen müssen. Es ist nicht zu sagen, was die unglückliche Frau in der Reihe von Jahren hat tragen und dulden müssen. Ein jüngerer Bruder hatte ihr zuletzt beigestanden. Er wurde ihr im vorigen Jahre genommen; er wurde zur Landwehr eingezogen; er hat auch jetzt wieder mit nach Frankreich marschieren müssen. Ihr einziger Trost war der Bernhard.«

      »Und«, sagte der Domherr, »nachdem sie ihr die Stützen genommen hatten, nehmen sie ihr jetzt auch den Trost. Und während der arme Landwehrmann, der Bruder, dahinten von den Franzosen sich muss totschlagen lassen, wird der Sohn hier wie ein wildes Tier zu Tode gehetzt Das ist der Dank für das Volk.

      Es ist die uralte Geschichte, und das Volk bringt gehorsam und treu und willig immer wieder neue Opfer, um sich den Dank von neuem zu holen!«

      Sie hatten das Tal erreicht, in dem das Gut Ovelgönne lag. Sie waren schon eine Strecke weit hinein gefahren, als der Kutscher auf seinem niedrigen Bock, wie die Bergchaisen ihn haben, sich umwandte. Er war ein junger, gewandter Bursche.

      »Mamsell«, sagte er, »es ist so sonderbar heute Abend im Tale. Ich habe schon ein paarmal einen einzelnen Menschen seitwärts im Gebüsche gesehen. Die Leute schienen auf der Lauer zu stehen; sie verbargen sich, wenn der Wagen näher kam; war er vorbei, so kamen sie halb hervor, um ihm nachzusehen. In diesem Augenblicke sah ich wieder einen, und ich gewahrte deutlich, dass er ein Gewehr trug.«

      Karoline Lohrmann erschrak.

      »Die Grenzjäger!« sagte sie. »Bernhards Verfolger! Aber wie käme er hierher? In das offene Tal?«

      Auf einmal fiel ihr etwas ein.

      »Er wäre noch nicht hier! Wir könnten ihn noch er warten! Ich muss es.«

      »Christoph, halt!« rief sie dem Kutscher· zu.

      »Was hast Du vor?« fragte der Domherr.

      »Onkel Florens, an Dich habe ich eine Bitte. Ich gehe mit Christoph zurück; willst Du so gütig sein, unterdes das Pferd zu halten?«

      »Karoline, was fällt Dir ein?«

      »Ich muss wahrhaftig, Onkel Florens.«

      »Nein, Karoline, Du musst nicht. Ich gehe für Dich mit dem Christoph, der die Wege im Gebirge besser kennt als ich. Steige ab, Christoph, und Du, Karoline, fahre nach Hause. Ich komme Dir zu Fuße nach; wir haben nicht weit mehr nach Ovelgönne.«

      Karoline wollte Einwendungen machen.

      Es kam anders, als sie beide dachten.

      Der Kutscher hatte gehalten; er wollte absteigen.

      Man hörte plötzlich Schüsse fallen, eine ganze Salve; einzelne folgten.

      »Es ist zu spät!« rief Karoline.

      »Die Hetze hat schon begonnen!« sagte der Domherr.

      Es war so. Und sie sollte fortgesetzt werden.

      Die Schüsse waren tiefer hinten im Tale gefallen, nach Ovelgönne zu, aber seitwärts, dort, wo aus dem Tale eine Seitenschlucht lief.

      An dem Wagen vorüber rannten Menschen nach der Gegend hin. Sie trugen Gewehre; es waren Grenzjäger, wohl dieselben, an denen der Wagen vorbeigefahren war, als sie in dem Gebüsch auf Wache standen.

      »Hin, hin! Ihnen nach!« rief Karoline dem Kutscher zu.

      Der Wagen flog den Grenzjägern nach.

      Einzelne Schüsse fielen noch zur Seite.

      Der Wagen kam ihnen näher.

      Aus dem Gebüsche seitwärts kam ein Mensch hervorgestürzt.

      Andere folgten ihm, verfolgten ihn.

      »Hilfe!« rief der Fliehende.

      Er rief es wie in Todesangst.

      »Bernhard! Bernhard!« schrie Karoline Lohrmann auf.

      Sie sprang aus dem Wagen in seinem vollen Laufe.

      Sie flog auf den Knaben zu.

      »Hier, Bernhard, hier!« rief sie.

      Die Verfolger waren keine zehn Schritte mehr von ihm.

      Sie hatte ihn eher erreicht, er sie.

      Er lief mit seiner letzten Kraft.

      Er schwankte, er war am Niedersinken.

      Sie fing ihn auf; sie schlug ihre beiden Arme um ihn. Sie hob ihn auf mit allem seinem Blute, das ihm den Körper schon bedeckte, das noch aus der verwundeten Schulter floss, mit seinem todbleichen Gesichte, mit seinen brechenden Augen. Er hatte sie noch einen Augenblick damit ansehen können.

      »Mamsell!« hatte er noch sagen können.

      Dann war er zusammengebrochen, dann hatten die Augen sich ihm geschlossen. Karoline Lohrmann trug ihn wie eine Leiche.

      »Haben sie Dich zu Tode gehetzt, Du armes Kind?« sagte sie.

      Sie trug ihn zu dem Wagen, der gehalten hatte.

      Die beiden verfolgenden Grenzjäger waren herangekommen, wollten sie aufhalten.

      Der Domherr trat ihnen entgegen.

      »Rühre einer sie an!«

      Er rief es so stolz, so befehlend; seine Augen flammten durch die Nacht.

      Die Zollbeamten standen verlegen.

      Aber sie erhielten Hilfe

      In einer Entfernung von hundert Schritten hielt ein zweiter Wagen. Von ihm her eilten mehrere Personen heran.

      Ein großer, stattlicher Herr war an ihrer Spitze.

      »Was gibt es hier?« fragte er vornehm.

      »Herr Regierungsrat«, wurde berichtet, »wir verfolgten einen Schmuggler. Er wurde uns hier entrissen; er ist dort in den Wagen gebracht. Man verweigert seine Herausgabe.«

      »Wer darf sich königlichen Beamten widersetzen?« sagte der Regierungsrat streng.

      Er ging zu dem Wagen.

      Karoline hatte den Knaben auf die Kissen des Wagens gelegt. Die Frau Mahler hatte ihr geholfen.

      Da hatte die Frau die Stimme des Regierungsrats gehört.

      Sie hatte einen Schrei der Angst, des Entsetzens erstickt. Sie war bleich wie der Knabe, den sie wie eine Leiche hielt. Sie konnte ihn nur noch krampfhaft halten.

      Sie