Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme. Jodocus Temme. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jodocus Temme
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027238149
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muss ich also um Verzeihung bitten, dass ich so lange blieb. Ich lief in den Bergen herum. Der Abend ist so still, so schön. Die ganze Natur ist hier so still und schön, so jung und frisch, so würzig und duftig zwischen ihrem Frühling und ihrem Sommer. Da kamen allerlei nichtsnutzige Gedanken über mich und ich vergaß mich und Euch.«

      »Nichtsnutzige Gedanken an dem schönen Abend, Onkel Florens?«

      »Ja, recht nichtsnutzige! Ich hätte der Welt fluchen mögen, den Menschen, der Vorsehung gar, wenn ich nicht zur rechten Zeit an die Vorsehung gedacht hätte. Der Krieg, der Mord, alle die Raserei des Kriegs und des Mordes traten vor mich. Auch dort hinten, jenseits des alten Rheins, hat dieser stille, schöne Abend sein hohes Sternenzelt so friedlich ausgespannt über Hunderttausende armer Menschen, die an der nackten Erde liegen, nur erfüllt von dem Gedanken des Hasses, der Rache, des Mordes oder von der blassen Furcht des eigenen Todes. Morgen, wenn der Tag graut, werden sie gegeneinander getrieben, einander zu morden, zu vernichten. Getrieben wie wilde Tiere, wie Tiger gegen Panter, wie Panter gegen Löwen! Und sie sind alle Menschen, und die Menschen nennen sich alle Brüder und sollten es sein und sind es. Und es gibt Menschen, die ihre Freude daran haben, an diesem Morden, an dieser Wut, die kein Tier gegen ein Tier seiner Rasse hat. Und es sind menschliche Wesen, wenn sie auch nicht sein wollen wie andere Menschen. Und das Morden und die Wut, die Raserei der andern ist ihr Triumph, ihre Ehre und ihr Ruhm. Und die Menschheit erkennt diesen Ruhm an und erhebt ihn und wirft sich vor ihm nieder in den Staub, und nennt es die Geschichte. — Aber fahren wir. Ich werde den Wagen bestellen und auch die Kellnerin zu Euch führen, damit Ihr von Eurer neuen Freundin Abschied nehmen könnt.«

      Er ging zu dem Wirtshause.

      Dort war reges Leben. Die Zollbeamten waren am Aufbrechen.

      Ein Grenzjäger, so erzählte der kleine Kutscher der Mamsell Lohrmann dem Domherrn, war wenige Minuten vorher eilig in das Hans gekommen, hatte einen Zollinspektor aus dem Zimmer, in welchem die höheren Beamten mit dem fremden Regierungsrat an der Tafel saßen, herausrufen lassen und ein paar heimliche Worte zu ihm gesprochen. Der Inspektor war in das Zimmer zurückgeeilt. Gleich darauf war ein allgemeiner Aufbruch der sämtlichen Beamten entstanden. Der Wagen des Regierungsrats war angespannt, die Pferde der andern Beamten waren vorgeführt, die Grenzjäger hatten ihre Waffen genommen.

      Die Jäger standen in dem Hausflur militärisch aufgestellt, einzelne andere Beamte gingen geschäftig hin und her. Man wartete auf den Regierungsrat, der mit dem Oberinspektor noch im Speisezimmer war. Er berichtige die Zeche, sagte der kleine Kutscher. Für alle.

      Er halte heute alle frei; er erwarte heute Nacht einen ganz besonderen Diensteifer von ihnen; es gelte einen wichtigen Fang.

      Die Kellnerin kam ans dem Speisezimmer.

      »Nun wird er kommen!« flüsterte es.

      Der Regierungsrat, der Regierungsrat von Minden war gemeint. Er war den Beamten eine hohe vorgesetzte Person. Die Jäger zogen strammer die Gewehre an, als wenn sie vor ihm präsentieren wollten. Die andern krümmten schon die gehorsamen Rücken.

      Der Regierungsrat trat aus dem Zimmer, gefolgt von dem Oberinspektor.

      Die Jäger standen unbeweglich; die andern verbeugten sich tief.

      Der Regierungsrat war wirklich ein Herr von vornehmem Aussehen, eine große stattliche Figur mit einer hohen Stirn, einem regelmäßig, etwas aristokratisch geformten Gesicht, einem würdigen und zugleich höflichen, in diesem Augenblicke höflich herablassenden Wesen. Er war noch ein junger Mann, vielleicht noch in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre.

      Der Domherr hatte sich ihn genau betrachten müssen; er konnte sich keine Rechenschaft darüber geben, warum. Der vornehme, höfliche, herablassende Mann schien ihm nicht sonderlich zu gefallen; warum, war ihm wohl gleich falls nicht klar.

      Der Regierungsrat blieb einen Augenblick im Flur stehen. Er ließ seinen Blick über seine sämtlichen Untergebenen schweifen, streng; es war ein dienstlicher Blick. Weniger streng sprach er:

      »Ich hoffe, nein, ich bin überzeugt, dass jeder von Ihnen heute Nacht seine Schuldigkeit tun wird.«

      Mit den Worten schritt er aus dem Flur zu seinem Wagen, der draußen vor der Tür hielt.

      Sie folgten ihm alle.

      Der Oberinspektor hob ihn untertänig in den Wagen und musste sich zu ihm setzen.

      Der Wagen fuhr rasch davon; die andern folgten ihm zu Fuß, zu Pferde.

      Der Domherr hatte still zugeschaut.

      Als er sich umwandte, stand die Kellnerin Henriette Brand vor ihm.

      Sie zeigte eine so besondere Unruhe.

      »Was fehlt Ihnen, Kind?« fragte sie der Domherr.

      »Die richten heute Nacht noch ein großes Unglück an«, antwortete sie.

      »Ja«, sagte der Domherr, »Glück bringen die niemals mit sich. Seltsame Dinge, unsere Staaten! Zum Schutze, zur Wohlfahrt der Menschen, der sogenannten Untertanen, wollen sie da sein, und sie haben so viele Institute und Organe, vor denen der Untertan läuft, soweit er nur laufen kann, weil sie ihm nichts als Unglück bringen. Aber haben Sie jetzt Zeit, Kind?«

      »Ich bin für heute frei.«

      »So begleiten Sie mich, Abschied zu nehmen.«

      Sie gingen zur Laube.

      Die Kellnerin nahm Abschied von den beiden Frauen.

      »Wir bleiben Freundinnen!« küsste Karoline Lohrmann das Mädchen. »Der Onkel Florens hat es gesagt. Und wir werden uns öfter wiedersehen; hoffentlich in Freude, nicht in Leid. Und wer zuerst Nachricht von der Armee bekommt, teilt sie den andern mit.«

      Dann sah auch sie die Ängstlichkeit der Kellnerin.

      »Was haben Sie?« fragte auch sie.

      »Der arme Bernhard, Mamsell!«

      »Was ist es mit ihm?«

      »Er ist mit den Schmugglern fort. Und kaum konnte er fort sein, als ein Grenzbeamter in das Haus stürzte. Er hatte in der Nähe auf Wache gestanden und den Zug der Schmuggler gesehen. Er brachte die Nachricht. Sie wurde dem Regierungsrat mitgeteilt. Ach, es schnitt mir in das Herz, wie das falsche Gesicht des vornehmen Mannes triumphierte. Der arme Bernhard! Er glaubte sich so sicher, und kein Mensch kann ihn warnen.«

      »Hoffen wir, dass er unter Gottes Schutz stehe«, sagte die Mamsell.

      Die Bergchaise der Mamsell fuhr an dem Garten vor.

      Sie gingen hin. Der Domherr stieg mit den beiden Frauen ein. Der Kellnerin wurde noch ein Lebewohl zugerufen. Sie fuhren fort.

      Sie saßen still im Wagen.

      Der Domherr brach zuerst das Schweigen.

      »Der einfache Sinn ist doch immer der klarste«, sagte er. »Ich sah es so oft an Dir, Karoline. Heute zeigte es mir die Kellnerin wieder. Da war der vornehme Regierungsrat aus Minden—«

      Karoline Lohrmann fühlte ein Zucken neben sich; die Frau Mahler saß an ihrer Seite.

      Der Domherr fuhr fort:

      »Der Mann war eine so stattliche Figur, war ein schöner Mann, hatte etwas sehr Gewinnendes in seinem Wesen und wollte mir doch nicht gefallen, und ich wusste nicht, was es war. Da sagte es nachher die Kellnerin mit ein paar Worten: das falsche Gesicht des Mannes und der boshafte Triumph darin. Ja, ja, wohin der kommt, dahin bringt er kein Glück!«

      Die Frau Mahler hatte sich in die Ecke des Wagens gedrückt, dass Karoline Lohrmann das Beben ihrer Körpers nicht fühlen sollte.

      Karoline suchte das Gespräch auf anderes zu bringen. Oder war es nicht absichtlich?

      »Der arme Bernhard!« sagte sie. »Wenn ihm nur kein Unglück zustößt!«

      Der Domherr fragte, was es mit ihm sei.