Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme. Jodocus Temme. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jodocus Temme
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027238149
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      Der Domherr kehrte zu seinem Tische zurück, nahm seine Tasse Kaffee und ging damit zu der Laube.

      »Ist’s erlaubt?« sagte er.

      Damit setzte er seine Tasse Kaffee auf den Tisch und sich auf die Bank zu dem lahmen Mann.

      Der Mann zog höflich seinen Hut, rückte ein wenig und sagte:

      »Es ist ja Platz hier!«

      »Richtig«, sagte der Domherr. »Und darum sollten Sie nicht rücken. Wenn nachher Ihr Kind zurückkommt, rücke ich, oder ich gehe auch ganz. Ihr Kind hatte eine rechte Freude, Sie wiederzusehen. Es tat mir wohl. Sie hatten sie wohl lange nicht gesehen?«

      »Seit zwei Jahren nicht.«

      »Sie sind hier in der Nähe zu Hause?«

      »Ich bin Schulmeister in Heimsen, drüben im Preußischen, eine Stunde von hier.«

      »So, so, Schullehrer! Und wo war Ihre Tochter in den zwei Jahren?«

      »Hm, Hochwürden—« sagte der Mann.

      »Ha, Sie kennen mich, Herr Schulmeister?«

      Der Schulmeister zeigte schweigend auf das Domherrnkreuz.

      »Ja so! Nun, was wollten Sie mir sagen?«

      »Zuerst, Hochwürden, dass das Mädchen nicht meine Tochter ist.«

      »Sie nannte Sie doch Vater und freute sich wie ein Kind, das seinen Vater wiedersieht.«

      »Und auch ich freute mich wie ein Vater, der seine Tochter wiedersieht. Ich liebe sie auch wie mein Kind, und ich habe sie — aber das wäre eine lange Geschichte.«

      »Könnten Sie sie mir erzählen?«

      Der Schullehrer sann einen Augenblick nach. Auf die Frage antwortete er nicht.

      »Hochwürden«, sagte er, »wünschten zu wissen, wo das Mädchen in den zwei Jahren war. Sie war Kellnerin bei dem Wirt in Kassel, der für diesen Sommer die Wirtschaft hier auf der Sägemühle gepachtet hat.«

      »Und sie hatte Sie in der ganzen Zeit nicht besucht?«

      »Das kostet Zeit und Geld, die. solch ein armes Mädchen nicht übrig hat. Seit zehn Tagen ist sie hier. Vor fünf Tagen konnte sie es mir erst sagen lassen. Heute konnte ich sie erst besuchen Ich habe auch nicht immer Zeit.«

      »Und die lange Geschichte?« fragte der Domherr doch noch einmal.

      Der Schullehrer sann noch einmal nach.

      In dem Gesicht des Domherrn war so klar die Gutmütigkeit zu lesen. Kirche und Schule, wenn sie recht und echt sind, gehören doch nun einmal zusammen.

      »Wenn sie Sie interessiert«, sagte er.

      »Gewiss, Herr Schulmeister.«

      »Aber ich muss weit ausholen.«

      »Das pflegt man bei langen Geschichten zu müssen.«

      »Ich war zuerst Soldat —«

      »Mit Ihrem lahmen Fuß?«

      »Ja und nein. Ich war schon in meinem achtzehnten Jahre so groß gewachsen, wie Sie mich jetzt sehen; ich war noch größer; ich lahmte noch nicht; ich maß sechs Schuh und fünf Zoll. Mein Vater war Schullehrer im Ravensbergischen. Ich sollte sein Nachfolger werden; dann konnte ich auch nicht zum Soldaten ausgehoben werden.

      Ich wurde in ein Seminar geschickt, nach Bielefeld. Das war mein Unglück. In der Stadt lag eine Garnison Zu ihrer Inspizierung kam einmal ein General aus Berlin hin. Er sah mich. Der muss zur Garde nach Potsdam, war das erste Wort, das er zu den Offizieren gesagt hatte. Er ist im Seminar, er braucht nicht zu dienen, wurde ihm erwidert. Der General hatte dazu gelacht. Nach vierzehn Tagen kamen zwei Unteroffiziere in das Seminar, holten mich mit Gewalt heraus und brachten mich im Postwagen nach Potsdam. Dort wurde ich in das erste Garderegiment gesteckt, und zwar in die erste Kompanie, in der die größten Menschen waren. Ich war so groß, dass ich im ersten Gliede nicht zu den Kleineren gehörte. In Bielefeld hatte ich keinen Menschen sprechen, über die Gewalt, die gegen mich verübt war, keine Klage führen können; auch unterwegs im Postwagen konnte ich es nicht. In Potsdam war es noch weniger möglich; ich kam nicht aus der Kaserne. Nach vierzehn Tagen sollte ich mit andern neuen Rekruten dem Könige vorgestellt werden. Der König hatte die bekannte Leidenschaft für große Menschen in seiner Garde. Du nimmst dir doch ein Herz und sagst ihm alles, war mein Vorsatz.

      Aber unser Hauptmann mochte mir angesehen haben, was ich vorhatte, oder Ähnliches mochte schon oft vorgekommen sein. Am Morgen vor der Vorstellung sagte mir der Hauptmann: ‘Wenn Du gegen Seine Majestät ein Wort der Klage führst, so hilft Dir das nichts, als dass Du sechs Wochen auf Latten kommst. Darauf gebe ich Dir mein Ehrenwort.’«

      Der Domherr unterbrach den Schulmeister.

      »Im ersten Garderegiment standen Sie?«

      »Ja.«

      »Und in der ersten Kompanie?«

      »In der ersten Kompanie.«

      »Hm, und wie hieß Ihr Hauptmann?«

      »Baron von Steinau.«

      »Hm, hm! Fahren Sie fort.«

      »Wir wurden darauf dem Könige vorgestellt. Wir mussten zum Schlosse marschieren und uns in einem kleinen Hofe ausstellen, nur wir Rekruten; nur der Hauptmann und ein Lieutenant führten uns. Nach einiger Zeit kam der König aus dem Schlosse heraus. Offiziere waren nicht mit ihm, aber ein paar Damen. Sie schienen von der Tafel zu kommen. Er sah sehr vergnügt aus, auch die Damen. Königliche Prinzessinnen waren diese Damen nicht; wenn sie auch mit Gold und mit Samt und Seide beladen waren, sie sahen nicht vornehm aus und der König ging auch nicht sonderlich mit ihnen um.

      Aber besonders die eine war sehr schön und mit ihr sprach auch der König meist. Ich sah sie später noch einige Male und da hörte ich, dass sie Madame Rietz hieße und die Frau, ich glaube, eines Kammerdieners des Königs sei. Nachher hat er sie zu einer Gräfin gemacht Als ich den König so vergnügt sah, kam neue Hoffnung in mich. Er wird dich anhören; der Hauptmann wird nicht den Mut haben, dich zu unterbrechen, wenn der König dir einmal zuhört. Und dann werden die Damen für dich sprechen; sie haben ja mitleidige Frauenherzen. Der König war zu uns getreten. Er besah uns mit Wohlgefallen. Wir waren alle groß, trugen neue Uniformen, waren noch nicht lange in dem elenden Kasernendienst und hatten also noch ein frisches Aussehen. ‘Schöne Burschen, nicht wahr?’ sagte der König zu der Madame Rietz. ‘Man muss Eurer Majestät Glück zu ihnen wünschen’, erwiderte diese. ‘Auch dem Hauptmann von Steinau’, sagte der König. ‘Hat doch die schönste Kompanie in meiner ganzen Armee.’ Der Hauptmann wurde um zwei Zoll größer. Auf mich achtete er in diesem Augenblicke nicht. Wenn doch jetzt der König zu dir treten möchte, dachte ich. Er trat an die einzelnen von uns heran. Aber er kam nicht zuerst zu mir; ich war erst der fünfte oder sechste. Endlich stand er vor mir. Das Herz klopfte mir. Er musste auch mich anreden, und dann — Der Hauptmann hatte sich zwar ganz nahe zu mir gestellt. Er hatte mir angesehen, was ich vorhatte; er hatte auch seinen Entschluss gefasst; ich sah es in seinem Gesichte. Ich wollte, ich musste dennoch alles wagen. Der König besah mich zuerst von unten bis oben. Ich musste ihm besonders gefallen. Er streichelte mir das Kinn, an dem ich noch kein Härchen hatte. Dann wandte er sich zu der schönen Frau zurück.

      ‘Wie Milch und Blut, Madame! Wie ein Mädchen! Auch das Kinn noch so glatt. Ganz wie ein Mädchen!’

      Auf einmal lachte er.

      ‘Schöne Mädchen von sieben Fuß! Eine solche Garde! Schade, dass es nicht möglich ist!’

      Die andere Dame, nicht die schöne — sie schien eine Hofdame zu sein — bemerkte:

      ‘In Afrika, Majestät, soll es Potentaten geben, die sich eine Garde von Amazonen halten.’

      ‘Auch die Offiziere sind Frauen?’ sagte der König.

      ‘Alle, selbst der General!’

      ‘Gar