Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme. Jodocus Temme. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jodocus Temme
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027238149
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hinein.

      »Auf allem, was sie tut, ruht der Segen Gottes«, sagte er.

      Als er das Tal verlassen hatte, kam er wieder in engere Schluchten. Aus diesen führte dann der Weg nach Hofgeismar geradeaus in eine weite Hochebene, während die Diemel mit ihren Bergen und Schluchten und Tälern nach links abbog.

      Der Wagen des Domherrn hatte in dem Wege nach Hofgeismar noch keine zwanzig Schritte zurückgelegt, als links von der Diemel her laut gerufen wurde.

      »Onkel Florens! Onkel Florens!« rief jubelnd eine weibliche Stimme.

      »Halt! Halt!« rief der Domherr seinem Kutscher zu.

      Eine offene Bergchaise, ähnlich der des Domherrn, kam das Ufer der Diemel entlang.

      Eine einzelne Dame saß darin.

      Der Domherr hatte sie schon an der Stimme erkannt.

      Als er sie sah, war er auch schon aus seinem Wagen heraus, in einem Sprunge.

      In einem Sprunge flog auch die Dame aus dem ihrigen, dem alten Herrn entgegen.

      »Onkel Florens! Du lebst noch!« rief sie.

      »Karoline, mein Engel!« rief er.

      Die Dame lag in seinen Armen.

      Der Domherr umfing sie.

      Sie küssten sich wie Vater und Tochter, die nach langer Trennung sich wiedersehen.

      Es war eine schöne, junge Mädchengestalt, groß, fast majestätisch schlank und elastisch dabei; das Gesicht frisch wie Milch und dabei so treu und ehrlich und so klug und verständig, das ganze Wesen so einfach und natürlich und doch so voll Anmut und Adel.

      Das schöne Gesicht strahlte in Glück und Freude.

      Glück und Freude glänzten in dem Gesichte des Domherrn.

      »Mädchen, Du wirst ja immer schöner«, sagte er. »Und auch gewachsen bist Du noch. Wie alt bist Du denn?«

      »Neunzehn Jahre, Onkel Florens.«

      »Ja, ja, neunzehn Jahre! Wie die Zeit vergeht!«

      Und durch das Gesicht des Domherrn zog etwas wie eine sehr wehmütige Erinnerung.

      Aber er fuhr mit der Hand über die Stirn und die Augen, wohl damit sie ihm nicht feucht werden sollten und er das schöne Mädchen wieder recht klar und hell ansehen könne. Und er verlor sich in ihrem Anschauen.

      Das Mädchen hatte wohl nicht gesehen, wie ihm das Herz war bewegt worden.

      »Aber wo warst Du im vorigen Jahre, Onkel Florens?« fragte sie. »Wenn Du wüsstest, wie ich mich geängstigt habe!«

      Die Frage schien den Domherrn verlegen zu machen.

      »Wir reden ein andermal darüber, Karoline.«

      Sie konnte dennoch nicht abbrechen.

      »Ich hatte Dich so sicher erwartet. Du warst ja noch keinen Sommer ausgeblieben, solange ich zurückdenken kann. In den letzten Tagen des Juni warst Du immer spätestens eingetroffen. Es kam der erste, der zweite, der dritte Juli; Du kamst nicht nach Ovelgönne. Ich schickte zum Bade; Du warst auch da nicht.

      Ich wartete noch zwei Tage. Da konnte ich es nicht mehr aushalten; ich fuhr selbst nach Hofgeismar. Du warst nicht da; man wusste nichts von Dir; nicht in Deinem Quartier, in dem Du seit dreißig Jahren und länger Sommer für Sommer gewohnt hattest, nicht unter Deinen alten Bekanntschaften des Bades. Kein Mensch hatte nur das Geringste von Dir gehört. Die Leute meinten, Du müsstest krank sein, Du werdest später als Rekonvaleszent noch eintreffen. Aber Du kamst auch später nicht. Der ganze Sommer verging, Du kamst nicht. Ich glaubte Dich tot. Aber eine Stimme in meinem Herzen sagte mir, es sei nicht so; Du hättest unmöglich sterben können, ohne an mich zu denken, ohne irgendeinem Menschen den Auftrag zu geben, dass er mir Deinen Tod mitteile.«

      Sie konnte nicht weiter sprechen, sie musste laut schluchzen; die hellen Tränen liefen ihr über das schöne, frische, so edel geformte Gesicht.

      Der Domherr ergriff gerührt ihre Hand.

      »Ich lebe ja noch, Kind! Ich lebe ja noch!«

      Das Mädchen fuhr fort:

      »Auch der Herbst verging und auch der Winter und das Frühjahr wieder, und immer und immer kam keine Nachricht von Dir, und ich konnte nicht an Dich schreiben; ich wusste nicht, wo Du warst. Du hattest es mir ja nie gesagt. Der Onkel Florens aus Westfalen, der meist am Rhein wohnte und alle Jahre im Sommer zu mir nach Ovelgönne kam, mehr hatte ich ja nie von Dir zu wissen gebraucht. Domherr von Aschen, weiter stand nichts in den Kurlisten zu Hofgeismar, und mehr wusste keiner von Dir, den ich fragte, und Westfalen ist groß.

      O, wie schwere Angst und Sorge hatte ich um Dich! Und kein Mensch konnte sie mir abnehmen. Nur das Bild meiner Mutter trug sie mit mir, teilte sie mit mir.

      Ja, lieber Onkel Florens, wenn ich vor dem bloßen Gesichte saß — aber Du lachst mich aus!«

      Er lachte sie nicht aus.

      Ein heftiger innerer Schmerz hatte ihn wohl übermannen wollen, und um ihn nicht aufkommen zu lassen und zu zeigen, hatte er seinem Gesichte Gewalt angetan, dass das Mädchen meinte, er lache.

      »Nein, nein, Karoline, mein Engelskind!« rief er. »Und nun verzeihe mir. Ich habe Unrecht an Dir getan. Alte Junggesellen werden ja die verkörperten Egoisten.«

      »Du Egoist, Onkel Florens?«

      »Was anders? Aber ich werde mich bessern, und noch heute werde ich dahinten in der Brunnenliste meine Adresse einschreiben, dass jedes Kind wissen kann, wo ich in der Welt zu finden bin, und Du sollst mir von nun an regelmäßig alle Vierteljahre schreiben, oder noch lieber alle Monate, wenn es Dir nicht zu viel Last macht.«

      »Alle Monate, Onkel Florens!«

      »Und Du sollst mir alles schreiben, was Du auf dem Herzen hast, und auf jeden Brief sollst Du eine Antwort von mir erhalten. Bist Du nun zufrieden mit mir?«

      »Wer könnte unzufrieden mit Dir sein, lieber Onkel Florens!«

      Aber als er von dem sprach, was sie auf dem Herzen habe, war sie auf einmal nachdenklich geworden.

      »Hm, warum machst Du denn das Leichenbittergesicht?« fragte er sie. »Vorhin, im ersten Augenblicke, da Du mich sahst, hattest Du nur die helle Freude in den Augen, in den Händen, in den Füßen — wie sprangst Du aus dem Wagen! Das Herz bebte mir! Was hast Du jetzt?«

      Der alte Herr hatte recht gesehen; die helle Freude war nicht mehr in dem schönen Gesichte seines Engelskindes; eine Verlegenheit, die an Ängstlichkeit grenzte, spiegelte sich darin, und sie wuchs, während der Domherr davon sprach.

      »Wann kommst Du nach Ovelgönne, Onkel?« fragte sie.

      »Ist das die Antwort auf meine Frage?«

      Sie schlug die Augen nieder.

      »Ah, wenn ich komme, soll ich die Antwort erhalten?«

      Sie nickte.

      »Mädchen, Du hast etwas auf dem Herzen! Heraus damit, jetzt gleich!«

      Sie hatte mit Bedenken gekämpft; sie hatte sie aber auch mit ihrem klaren, richtigen Sinn schnell überwunden.

      »Ja, Onkel Florens, ich habe etwas auf dem Herzen. Ich bin Braut.«

      »Und ich erfuhr nichts davon?«

      »Wusste ich, wo Du warst?«

      »Erzähle mir, mein Kind«

      Der Domherr war doch ernst, sehr ernst, fast besorgt geworden.

      »Hast Du von dem Major Friedrichs gehört?« fragte das Mädchen.

      »Major? Major?« rief der Domherr. »Major war er in den Feldzügen der vorigen Jahre. Jetzt ist er Obristlieutenant,