Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme. Jodocus Temme. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jodocus Temme
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027238149
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So erschrecklich zufrieden sind die Leute auch da nicht mit dem neuen Regiment. Wenn sie auch den alten Zopf von Anno sechs nicht wiederbekommen haben, der Stock und die Peitsche dazu sind doch wieder da, der Stock für die Soldaten und die Peitsche für die andern ehrlichen Leute. Euer Gnaden müssen es ja wissen, Sie sind ja da zu Hause.«

      Der Domherr schwieg.

      Der Kutscher aber, der einmal im Zuge war, fuhr fort, und der Domherr ließ ihn fortfahren.

      »Und nun diese Grenzwachen und Zollsperren und Zollwächter und Zolljäger, von denen wir früher unter dem fremden Regiment auch nichts wussten! Die Franzosen hatten wohl ihre Douanen an den Grenzen, aber ihre Grenzen waren doch nicht mitten in Frankreich.

      Hier sind sie mitten im Herzen des deutschen Landes, und sie zerreißen dem Lande das Herz nicht ein oder zweimal, sondern fünfzig- und hundertfach. Nehmen Sie auch da nur wieder Ihr Preußen. Ich komme als Kutscher mit den fremden Badeherrschaften viel und weit herum, und da habe ich es selbst oft genug erfahren.

      Ihr Preußenland allein sperrt mit seinen Zollgrenzen sich ab gegen wenigstens zwölf deutsche Länder, aus denen ihm nichts hereingebracht werden darf, wenn nicht schwere Zölle dafür bezahlt werden. Da müssen sie dann in Preußen alles teurer bezahlen als anderswo. Das wollen die Leute natürlich nicht gern, besonders wenn sie sehen, wie ihre Nachbarn die Sachen besser und wohlfeiler haben. Da blüht dann überall der Schmuggel und der Schmuggelhandel, und der Krieg und die Hetzjagd an den Grenzen hören nicht auf. So ist es auch an der hessischen Grenze und gerade hier in dieser Gegend, wo die Berge den Schmugglern so manchen Versteck bieten, den die weiter kommenden Grenzwächter nicht kennen, und die Diemel das Entkommen leichter macht. Es werden doch noch immer genug arme Menschen erschossen, und ebenso viele, die mit dem Leben davonkommen, werden auf der Hetzjagd eingefangen und müssen dann für Jahre in das Zuchthaus, und aus den Zuchthäusern kommen nur Spitzbuben zurück. Hier an dieser Grenze will nun, wie man hört, die preußische Regierung der Geschichte ein Ende machen; es ist ihnen gerade hier in der neuern Zeit doch zu arg geworden. Da ist denn vor ein paar Tagen ein Regierungsrat aus Minden herübergekommen, der reist in den Bergen und Schluchten herum, sieht sich alles an, hat neue Instruktionen für die Grenzjäger mitgebracht, gar auch verstärkte Mannschaft, wie es heißt, setzt sich sogar mit den hessischen Grenzbehörden in Verbindung, dass diese mit den preußischen Hand in Hand gehen sollen, und so hofft man den Schmuggel in dieser Gegend ganz auszurotten. Du lieber Gott, jeder Mensch will so gut und so wohlfeil leben, wie er eben kann, und solange die Zölle bestehen, wird der Schmuggel bestehen.

      Was der Herr Regierungsrat aus Minden fertig bringt, wird nichts anderes sein, als dass das Jahr ein paar Dutzend Menschen mehr totgeschossen und noch mehr arme Familien unglücklich werden. Aber weiß der gnädige Herr, was bei dem allem noch das Allerschlimmste ist?«

      Der Domherr antwortete auf die Frage nicht. Er hatte seine Blicke den Strom hinauf nach der alten Sägemühle gerichtet, und dort schien etwas seine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen zu haben.

      Der Kutscher fuhr dennoch fort:

      »Das Schlimmste ist, dass Preußen seine Grenzen so nur hauptsächlich gegen die deutschen Länder abschließt. Dahinten an der russischen Grenze soll es ganz anders sein; da sollen im Gegenteil die Russen ihre Grenze gegen Preußen absperren, und die preußische Regierung soll mit der russischen sogar einen Vertrag geschlossen haben, durch welchen das ausdrücklich so festgestellt ist und die armen preußischen Einwohner selbst für das Salz dreimal so viel bezahlen müssen, als es in Russland kostet, und —«

      Der Domherr unterbrach den Redefluss des Kutschers.

      »Ich denke, wir haben nun genug von der Geschichte gesprochen. Ihr wolltet meine Befehle holen. Ihr wartet hier auf mich, bis ich zurückkomme.«

      »Der gnädige Herr will also zu Fuß nach Ovelgönne?«

      »Ja!«

      »Der gnädige Herr kennt den Weg?«

      »Ja!«

      Der Kutscher zog sich zurück

      Der Domherr konnte ungestört dem Anblick folgen, der sich ihm darbot.

      Die hübsche Kellnerin hatte ihm seinen Kaffee gebracht und Wein, Brot und Käse für den Kutscher auf einen Tisch seitwärts am Hause gestellt. Sie war dann stehen geblieben, um nach der Fähre zu schauen.

      Das Übersetzen erforderte Zeit. Die Nachen lagen am diesseitigen Ufer. Da musste der Fährmann zuerst einen losbinden, hinüberfahren, drüben einsteigen lassen, wieder zurückfahren.

      Die Kellnerin musste lange warten.

      Endlich kam jemand um die Mühle herum, langsam, beschwerlichen Schrittes.

      Es war ein langer, hagerer, ärmlich gekleideter Mann, er ging lahm und darum auch so langsam und beschwerlich. Das eine Bein war ihm viel kürzer als das andere; dennoch, wenn er auch auf dem kürzeren Beine stand, schien er noch seine sechs Fuß zu messen. Er hatte ein weiches, leidendes Aussehen und schien die Mitte der vierziger Jahre überschritten zu haben. Er ging auf das Haus zu. Die Kellnerin hatte er nicht gleich gesehen.

      Aber sie sah ihn, das frische Gesicht rötete sich lebhafter und sie stürzte fort, auf den langen, lahmen, leidenden Mann zu, umfing ihn mit ihren Armen und rief:

      »Vater! Vater!« und vergaß alles andere.

      »Hm, wie die Karoline!« sagte der Domherr für sich. »Und Dame Gisbertine?«

      Das Mädchen führte den lahmen Mann in eine Laube des Gärtchens dicht am Hause. Sie war dort mit ihm allein und doch für ihren Dienst immer bei der Hand.

      Sie war so glücklich; sie musste ihn lange nicht gesehen haben; sie war so traurig, dass sie ihn so leidend wiedersah; sie war so zärtlich, denn sie trat auf die Seite des lahmen Fußes und legte seinen Arm in den ihrigen, dass er sich im Gehen auf sie stützen konnte.

      Der lahme Mann freute sich ihres frischen, blühen den Aussehens.

      Als beide sich recht ausgefreut haben mochten, flog das Mädchen flink aus der Laube in das Haus; nach wenigen Minuten war sie wieder da mit Kaffee und Milch und Zucker und Zwieback und dabei zwei Tassen, wie wenn zwei Gäste zwei Portionen Kaffee bestellt hätten.

      Sie trug es in die Laube zu ihrem Vater; sie setzte sich zu ihm; sie schenkte ihm, sie schenkte sich ein; der arme kränkliche Mann sollte sich einmal etwas zugutetun, und damit es ihm recht gut tue, trank sie mit ihm.

      Sie konnte nur nicht lange bei ihm bleiben.

      Es kamen neue Gäste, zwei Handelsjuden mit breiten, runden Geldkatzen um den Leib, mit listigen Gesichtern, deren Übermut der vollen Geldkatzen sich bewusst war.

      »Wirtschaft!« riefen sie.

      Die Kellnerin musste zu ihnen eilen.

      »Kaffee!« befahl der eine.

      »Gott's Wunder«, rief der andere, »wer wird trinken heißen Kaffee bei dieser Hitze? Wir trinken Wein.«

      »Willst Du ihn bezahlen?«

      »Kann ich es doch! Also Wein, Jungfer, bringe Sie Wein! Ein ganzes Maß gleich und auch eine Flasche Schnaps und vier Gläser! Wir erwarten Gesellschaft.«

      Und nun befahl auch der erste, der nur hatte Kaffee trinken wollen; er verlangte Brot und Butter und Käse und Fleisch.

      Und wie das Mädchen ging, alles zu besorgen, hörte sie drüben vom andern Ufer, hinten an der Fähre, schon wieder ein »Hol’ über!« rufen; es kamen also neue Gaste, die sie dann wieder bedienen musste. Ihre Freude war für den Augenblick, vielleicht für längere Zeit dahin. Sie ging verdrießlich zu der Laube, sich und den Vater zu vertrösten; dann machte sie ihre Besorgungen.

      Der lahme, kränkliche Mann saß so allein und traurig da.

      »Hm, hm«, sagte der Domherr, und er stand auf und ging näher zu der Laube, um sich den Mann näher zu besehen.

      Der Mann fiel ihm auf, schien ihm interessant zu werden.

      Die ärmliche Kleidung