Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme. Jodocus Temme. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jodocus Temme
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788027238149
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ihm:

      »Sie ist nach Niederhelmern gefahren, Euer Gnaden. Bei dem Bauer Henke ist es nicht recht.«

      »Und da hilft sie wohl?«

      »Es geht den Leuten nicht gut.«

      »Ja, ja«, sagte der Domherr, und seine Augen leuchteten, »wo es jemand nicht gut geht, da muss das brave Mädchen dabei sein, um zu helfen.«

      »So ist es, Euer Gnaden«, bestätigte die Alte.

      »Und wann wollte sie zurückkommen?« fragte der Domherr.

      »Das kann noch eine Stunde oder anderthalbe dauern. Niederhelmern ist drei Viertelstunden von hier. Sie ist erst vor kaum einer Viertelstunde weggefahren, und sie wollte, wenn sie noch Zeit hätte, auf dem Rückwege im Walde nach der neuen Eichenpflanzung sehen.«

      »So sehe ich sie heute nicht mehr«, sagte der Domherr. »Ich habe noch stark zwei Stunden bis Hofgeismar zu fahren; ich muss bei Zeiten da sein, wenn Dame Gisbertine nicht — Alte Christine, ich habe Euch Besuch mitgebracht.«

      »Was Euer Gnaden mitbringen, ist immer gut«, sagte die alte Christine.

      »Ja, ja. Und eine Freundin für die Mamsell.«

      Er wandte sich zum Wagen.

      »Darf ich bitten, auszusteigen, liebe Frau Mahler?«

      Er sprach mit jener vollen ehrerbietigen Höflichkeit, mit der er in Paderborn die Frau aus dem Wagen gehoben und in das Posthaus geführt hatte. So war er ihr auch hier wieder beim Aussteigen behilflich.

      Die alte Christine stand nicht mehr betroffen. Sie kam dem Domherrn fast zuvor.

      »Wollen die gnädige Frau mir nicht das Kind geben?« bat sie.

      »Gnädige Frau will sie hier nicht sein«, sagte der Domherr. »Das Kind kannst Du nehmen, Alte. Und nun führe uns in das Stübchen der Mamsell.«

      Die Alte nahm das Kind und trug es in das Haus.

      Der Domherr und die Frau Mahler folgten ihr.

      Das Innere des Hauses war wohl nicht minder sonderbar eingerichtet, wie das Aussehen des Äußern war, und doch entsprach es diesem nicht. Durch das enge Eingangstor trat man sofort in eine Vorhalle. Sie war weit, niedrig, grau. Es herrschte kaum ein Halbdunkel darin; sie empfing ihr Licht nur durch zwei der schmalen Fenster, die zur Seite der Tür oben neben deren Gesimse angebracht waren. Die grauen Wände waren völlig kahl. Es befand sich nur noch eine einzige niedrige Tür darin, der Eingangstür gegenüber. Rechts im Hintergrunde war eine Treppe, die in die oberen Teile des Hauses führte. Sie war von Stein, breit, bequem.

      Die alte Frau erstieg sie. Der Domherr und die Frau Mahler folgten. Man kam in einen schmalen, ziemlich hellen Gang. Die zweite Tür des Ganges wurde von der alten Frau geöffnet.

      Sie traten in das Gemach, in das sie führte.

      Es war ein kleines Stübchen, dasselbe, durch dessen offenes Fenster man von außen die schneeweißen Vorhänge, die zierlichen Blumentöpfe mit den blühenden Rosen und den andern Blumen des Sommers gesehen hatte. Es herrschte eine wunderbare Einfachheit darin; nur wenige Möbel von derbem Eichenholz; aber sie mussten schon seit Hunderten von Jahren gestanden haben, das Holz war dunkelbraun vor Alter. Sie hatten vielleicht auch schon seit mehr als hundert Jahren in dem Stübchen gestanden und auf der nämlichen Stelle, auf der man sie heute noch sah; jedes einzelne Stück passte gerade dahin; man konnte es sich auf keinem andern Platze denken.

      Zu der Einfachheit und Ordnung kam die höchste Sauberkeit; die alten Möbel glänzten, als wenn sie am Tage vorher frisch aufpoliert wären; über der Kommode lag ein Tuch, so weiß wie die Vorhänge des Fensters; über den Tisch war eine Decke von dem feinsten grauen Leinendamast gebreitet; an dem Schranke wie in dem ganzen Zimmer war kein Stäubchen zu sehen.

      Die Einfachheit tut immer und überall wohl; Ordnung und Reinlichkeit können übertrieben sein und machen dann ängstlich. Hier passten sie zu der Einfachheit; hier tat alles wohl; man fühlte sich behaglich, heimlich, heimisch. Und unwillkürlich musste man an die Hand denken, die hier geordnet hatte, die hier waltete. Es konnte nur eine weibliche Hand sein.

      »Führe uns in das Stübchen der Mamsell«, hatte der Domherr der alten Frau befohlen.

      Sie waren in dem Stübchen der Mamsell Karoline, der Herrin des Hauses, der Besitzung in dem Tale.

      Der Domherr war schon still in die halbdunkle Halle eingetreten; er hatte, während sie die Treppe hinaufstiegen, kein Wort gesprochen; in dem Stübchen schien es ganz wie eine feierliche Rührung über ihn gekommen zu sein. Er warf einen schnellen Blick umher.

      »Ah, ah«, sagte er leise für sich.

      Dann trat er rasch an das Fenster, und da stand er lange und still, als wenn er hinausblickte. Aber er sah wohl nicht hinaus; er wollte sein Gesicht, seine Augen nicht sehen lassen.

      »Setzen Sie sich, liebe Frau Mahler«, sagte er einmal, und seine Stimme klang so sonderbar bewegt, und er wandte sich nicht um zu der Frau, zu der er sprach.

      Erst nach einer Weile drehte er sich wieder um. Er sah sehr ernst aus; seine Augen blitzten nicht, sie schienen feucht zu sein.

      »Christine, besorge uns einen Imbiss«, sagte er zu der Frau.

      Die Alte verließ das Zimmer.

      Zu seiner Reisegefährtin sagte er dann:

      »Sie nehmen es mir doch nicht übel, liebe Frau, wenn ich Sie verlasse? Ich muss fort; ich kann nun einmal nicht anders.«

      »Ich würde bedauern«, erwiderte ihm die Frau, »wenn Sie sich um meinetwillen den geringsten Zwang auflegten.«

      »Hm, es wäre besser, wenn ich es täte. Dame Gisbertine —«

      Er brach ab, wie so oft, wenn er von der Dame Gisbertine sprach.

      »Aber ich lasse Ihnen ein paar Zeilen zurück«, setzte er hinzu.

      In einer Ecke des Zimmers neben dem Fenster stand ein kleiner Schreibtisch mit einer Schieblade, in der der Schlüssel steckte. Der Domherr setzte sich an den Tisch.

      In der Lade musste sich Schreibmaterial befinden. Aber er öffnete sie nicht. Sie konnte auch Briefe, andere Geheimnisse der abwesenden Bewohnerin des Zimmers verbergen. Er zog aus der Tasche seines Rocks ein Notizbuch hervor, riss aus diesem ein Blatt heraus und schrieb daran mit einer Bleifeder, die er bei sich führte.

      Das Geschriebene gab er offen der Frau Mahler.

      »Es ist an Karoline. Aber ich bitte Sie, es zu lesen. Vielleicht wünschen Sie etwas hinzugesetzt.«

      Die Frau musste es lesen. Es lautete:

      »Vor allem, meine liebe, gute Karoline, dass ich noch lebe. Näheres darüber später, morgen oder übermorgen.

      Ich habe Dir eine Frau zugeführt, mit der Bitte, sie freundlich aufzunehmen. Ich sage Dir nichts über sie, wie ich ihr nichts von Dir gesagt habe. Ihr werdet Freundinnen werden; dann sagt Ihr Euch selbst und von selbst alles. Dein Florens.«

      »Ist es so recht?« fragte er.

      »Wie bin ich Ihnen für Ihre Güte dankbar!« sagte die Frau.

      »Nicht nötig! Nicht nötig!«

      Die alte Christine hatte den Imbiss gebracht.

      Er schenkte sich ein Glas Wein ein, trank es aus und nahm ein Stück Brot in die Hand.

      Damit brach er auf.

      »Gehe es Ihnen gut, liebe Frau Mahler! Grüßen Sie die Karoline von mir. In ein paar Tagen sehe ich nach, wie es Ihnen hier geht.«

      Er gab der Frau die Hand, verließ das Zimmer, das Haus, sagte der alten Frau ein kurzes Adieu und stieg wieder in seinen Wagen.

      Der Wagen fuhr dem andern Ende des Tals zu.

      In dem Tale begegnete