Morde zwischen Rhein und Themse. Rita M. Janaczek. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rita M. Janaczek
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783959591270
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für ihn bereits nichts mehr zu verlieren gab?

      Sands legte den Hörer auf, ihre Blicke trafen sich. Er sah jetzt genauso unglücklich aus wie an ihrem Abend in der Hotelbar. Er schien nachzudenken, wie er anfangen sollte, aber diese Überlegung erübrigte sich. Sie hörten eilige Schritte auf dem Flur, und Stanton fiel mit der Tür in den Raum. „Wir hatten einen anonymen Anruf. St. Williams soll sich auf einem stillgelegten Fabrikgelände im Stadtteil Dagenham aufhalten. ... Das Ganze ist allerdings ein wenig seltsam.“

      Henderson kam ins Büro gestürmt, auch Miller schaffte es durch die Tür.

      „Was hat der Anrufer genau gesagt?“, fragte Sands und zog die Augenbrauen zusammen.

      „St. Williams ist in der alten Fabrik von Doggers and Wilkens. Wenn Sie ihn lebend wollen, müssen Sie ihn vor mir kriegen.“, zitierte Stanton.

      „Was soll denn so ein Schwachsinn … vor wem kriegen?“ Miller verzog das Gesicht, dann musste er aufstoßen. Der Dunst von Whisky zog durch die Luft.

      „Was ist mit Whitefield?“, wollte Sands wissen.

      „Ist informiert“, antwortete Henderson knapp.

      „Wenn man vom Teufel spricht“, grinste Miller, als Whitefield zu ihnen stieß.

      „Sie fahren sofort“, keuchte der Superintendent. „Ich schicke Verstärkung nach, so schnell es geht. Sie müssen ihn kriegen, der Rest ist unwichtig.“

      Alle wussten, unter welch immensem Druck Whitefield mit diesem Fall stand. Laurie Hardin und die erfolglosen Ermittlungen im Sommer 1989 schwebten noch immer wie ein Damoklesschwert über ihm. Stanton sah zweifelnd in Allisters Gesicht. „Aber irgendwas stimmt da nicht. Warum sollte jemand uns anrufen, wenn er St. Williams den Hals umdrehen will?“

      „Vielleicht will er tatsächlich, dass wir ihn kriegen. Vielleicht will er nur, dass wir uns beeilen“, gab Henderson zu bedenken.

      „Stanton hat recht“, entgegnete Sands, erhob sich und griff nach seinem Mantel, „dem Ganzen fehlt die Logik. Nur eins ist sicher: Der Anrufer verfolgt den Zweck, dass wir unvorbereitet sind. Genau das gefällt mir überhaupt nicht.“

      „Macht sich unser Inspector etwa ins Hemd?“, grinste Miller.

      „Los jetzt“, schnarrte Whitefield.

      Beverly sah zu, wie Sands das Magazin in seine Waffe schob. Sie verließen sein Büro, eilten den Korridor entlang, holten die Mäntel, die Dienstwaffen und fuhren in die Tiefgarage.

      Patricia stieg zu Sands in den Wagen, Beverly ließ sich auf den Beifahrersitz von Stantons Auto fallen. Sie winkte Miller zu sich der einen nicht mehr ganz sicheren Gang hinlegte. Hank schüttelte nur den Kopf und stieg in sein Auto.

      „Dieser besoffene Volltrottel“, schimpfte Bill. Er drehte den Zündschlüssel, fuhr los und folgte Sands Wagen. Bald hatten sich die Autos im dichten Verkehr verloren.

      Stanton steuerte seinen Wagen über die gebrochenen Betonplatten. Aus den Ritzen wuchsen Unkraut und Moos. Als sie die Biegung nahmen, konnte Beverly die zwei anderen Autos warten sehen. Der Dreierkonvoi setzte sich in Bewegung, bog auf eine breite geteerte Zufahrt ab. Sie erreichten das Gelände von Doggers and Wilkens. Beverly hatte keine Ahnung, was hier einmal hergestellt wurde. Die stillgelegten Hallen ragten einsam und bedrohlich in den Himmel. Der Wind jagte dunkle Wolken über die verwahrlosten Gebäude aus Stahl und Beton. Auf dem asphaltierten Platz stapelten sich rostige Metallfässer, riesige Pfützen schimmerten in öligen Regenbogenfarben. Der hohe Zaun war beschädigt, das Tor stand offen. Miller fuhr als Erster auf den Platz, er parkte neben der vorderen Halle. Sie folgten ihm und stiegen aus. Er stellte sich in Positur, wies dabei an der Wand vorbei Richtung Norden. „Ich nehm’ mir die Halle da hinten vor. Ich kenn mich hier aus, ich hab hier mal mit Hays ein Rattennest ausgehoben.“

      „Okay, ich geh mit Hank“, Stanton wandte sich ihm zu.

      „Mach dir bloß nicht die Hosen voll, Billy. Ich geh allein.“ Er setzte sich in Bewegung und steuerte auf die hintere Halle zu. Dabei drehte er sich hin und wieder zu ihnen um. Beverly sah Stanton an, anscheinend dachten sie beide das Gleiche. Miller wollte ungestört sein, wenn er mit seiner Flasche die Angst in den Griff bekommen musste.

      „Henderson, Sie kommen mit mir.“ Sands sah Patricia kurz an. „Wir nehmen die vordere Halle.“ Er blickte zu Beverly.

      Sie nickte. „Okay, wir nehmen das Ding da an der Seite.“

      Die Waffe entsichert und in der Rechten, schob sie sich an der schweren Stahltür vorbei ins Innere des Kolosses. Stanton folgte ihr. Durch die Lichtschächte fiel mattes Licht auf das Labyrinth aus Rohren, Kesseln, Beton und Stahl. Sie hielt die Waffe in den schmalen Gang, während Stanton sich in diese Richtung vorarbeitete. Er warf einen Blick in einen Kreuzgang, passierte ihn und blieb halb verdeckt durch ein breites Fallrohr stehen. Sie konnte nur noch seinen Schattenriss erkennen, sah aber, dass er sie jetzt absicherte. Sie folgte parallel zu seinem Weg. Sie erreichte seine Höhe, nur quer laufende Rohre trennten sie voneinander. Er legte den Zeigefinger über seine Lippen, sie lauschte. Der starke Wind machte es ihr nicht gerade leichter. Sie hörte das Rauschen von draußen, auch das unheimliche Heulen, das sich pausenlos und bedrohlich seinen Weg durch die undichten Schächte suchte. Ein seltsames Klappern kam von der Seite. Das war es, was Bill meinte. Sie legte die Waffe an, und er schob sich, den Rücken an einen riesigen Kessel gelehnt, langsam in diese Richtung. Sie schritt langsam seitwärts, ohne ihn aus den Augen zu lassen, und blieb neben einer Betonsäule stehen. Stanton stand jetzt neben einer Tür, zog sie langsam auf und schob den Lauf seiner Waffe hinein. Er verschwand in der Dunkelheit, und Beverly atmete mit gespitzten Lippen langsam aus. Sie spürte ihr Herz, das in ihrem Hals zu schlagen schien. Bill tauchte wieder auf, er schüttelte den Kopf. Beverly ging um die Betonsäule herum, kletterte über ein niedriges Geländer. Dann bemerkte sie schräg hinter Stanton eine Metalltreppe. Sie hob ihre Waffe wie einen Zeigestock nach oben. Er begriff. Sein Blick folgte ihr. Über dem Gewirr, das sich hier unten befand, verzweigten sich Gänge. Wenn sich dort oben jemand versteckte, würde er sie früher oder später sehen. Und wenn er eine Waffe hatte, waren sie ein leichtes Ziel. Stantons Zeigefinger wanderte nach oben, sie nickte. Er schlich an einem Geländer entlang, mehrere dicke Rohre trennten ihn von dem Aufgang. Dann hatte sie ihn verloren. Sie spähte mit zusammengekniffenen Augen dahin, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte. Er tauchte vor der Treppe wieder auf. Anscheinend war er unter den Ableitungen durchgekrochen. Sie hörte ein Geräusch, ein Quietschen. Auch Stanton musste es gehört haben. Er rührte sich nicht.

      Beverly blickte auf die Gänge über sich und befand, dass es ein Fehler gewesen war, Miller in seinem Zustand allein gehen zu lassen. Er war in größter Gefahr. Sie hatte diesen Gedanken gerade erst zu Ende gebracht, als ein Schuss das Rauschen zerriss. Beverly konnte Stantons Gesicht im Halbdunkel nicht erkennen, aber sie spürte, dass er zu ihr herübersah. Sie machte einen Wink mit dem Arm und trat den Rückzug an. Miller! Verdammt! Sie robbte unter den verschachtelten Rohren zurück, um den Weg abzukürzen, passierte den Kessel.

      Wieder ein Quietschen. Sie drehte sich. Nichts.

      Der Gang.

      Beverlys Vorsicht schwand. Sie erreichte die Stahltür gleichzeitig mit Stanton. Er riss sie auf. Die Sonne warf spärliche Strahlen in die Wasserlachen, der gleißende Schimmer blendete Beverly. Sie sah sich um.

      „Wohin?“, fragte Stanton.

      „Hintere Halle, wir müssen zu Miller, ich...“ Beverly beendete den Satz nicht. Henderson schob sich durch die Metalltür der anderen Halle nach draußen, und sofort ergriff der Wind Besitz von ihren langen blonden Haaren. Sie hielt ihre Waffe in der Hand, ihre Arme hingen schlaff herunter. Sie rannten auf sie zu.

      „Was ist passiert, wer hat geschossen?“, fragte Beverly atemlos.

      „Ich habe geschossen.“ Patricias Stimme war heiser. „Ich glaub, ich hab ihn nicht erwischt.“

      „Wo ist Sands?“

      Henderson antwortete nicht, und Beverly erkannte den Ernst