»Sehr, sehr niedlich!« sagte er, augenscheinlich über Natalie. Dann setzte er sich in die erste Reihe neben Dolochow und stieß mit dem Ellbogen nachlässig diesen Dolochow an, gegen den sich alle mit solchem Respekt benahmen.
»Wie ähnlich Bruder und Schwester sind!« sagte der Graf. »Und wie schön sind beide!« Schinschin erzählte dem Grafen halblaut eine Intrige Kuragins in Moskau, und Natalie horchte darauf, weil er über sie gesagt hatte »sehr niedlich«.
Der erste Akt ging zu Ende. Alles stand auf und geriet in Bewegung. Boris kam in Rostows Loge, nahm sehr gleichmütig, mit zerstreutem Lächeln die Glückwünsche entgegen und überbrachte Natalie und Sonja die Bitte seiner Braut, bei ihrer Hochzeit zugegen zu sein. Dann ging er wieder.
Mit heiterem, kokettem Lächeln sprach Natalie mit ihm und beglückwünschte diesen selben Boris zu seiner Verlobung, in den sie früher verliebt gewesen war. In dem Zustand der Betäubung, in dem sie sich befand, erschien ihr alles einfach und natürlich. Die Loge Helenes füllte sich mit den vornehmsten und geistreichsten Herren, welche damit zeigen wollten, daß sie mit ihr bekannt seien.
Vor dem Anfang des zweiten Aktes erschien Peter, welchen Natalie seit ihrer Ankunft noch nicht gesehen hatte. Sein Gesicht war trübe und er war noch dicker geworden, seit sie ihn zum letzten Male gesehen hatte. Anatol kam ihm entgegen, sagte ihm einige Worte, indem er nach der Rostowschen Loge blickte. Als Peter Natalie sah, wurde er lebhaft und ging rasch nach ihrer Loge. Er sprach lange mit Natalie. Während des Gesprächs vernahm Natalie in der Loge der Gräfin Besuchow eine männliche Stimme und als sie sich umwandte, begegnete sie den Blicken Kuragins. Er sah ihr gerade in die Augen mit einem entzückten, freundlichen Blick.
Im zweiten Akt sah man auf der Bühne Monumente, und in der Leinwand im Hintergrund war ein Loch, das den Mond vorstellte. Im Orchester spielten die Kontrabässe, und von rechts und links kamen viele Leute in schwarzen Mänteln heraus. Die Leute machten Gebärden mit den Armen und hielten Dolche in den Händen, dann liefen noch einige Leute herbei und zogen jenes Mädchen fort, das vorhin ein weißes, jetzt aber ein blaues Kleid trug. Sie zogen sie nicht gleich ganz fort, sondern sangen lange mit ihr und dann erst zogen sie sie fort, und hinter den Kulissen wurde dreimal auf etwas Metallisches geschlagen. Alle ließen sich auf die Knie nieder und sangen ein Gebet.
So oft Natalie während dieses Abends in das Parterre sah, erblickte sie Anatol, welcher einen Arm über die Lehne seines Stuhls geworfen hatte und nach ihr hinübersah. Sie bemerkte mit Vergnügen, daß sie ihn gefangen hatte, und es kam ihr nicht in den Sinn, daß darin etwas Unerlaubtes liege.
Als der zweite Akt zu Ende ging, stand die Gräfin Besuchow auf, wandte sich nach der Loge Rostows (ihr Busen war ganz entblößt) und winkte dem alten Grafen mit dem Finger, und ohne auf die in ihre Loge Tretenden zu achten, sprach sie lächelnd mit ihm.
»Machen Sie mich mit Ihren reizenden Töchtern bekannt«, sagte sie. »Die ganze Stadt ist entzückt, und ich kenne sie noch nicht.«
Natalie stand auf und verbeugte sich gegen die majestätische Gräfin. Sie errötete vor Vergnügen über diese Lobsprüche.
»Ich will jetzt auch Moskauerin werden«, sagte Helene. »Schämen Sie sich nicht, solche Perlen in der Einsamkeit zu vergraben?«
Die Gräfin Besuchow galt mit Recht für eine bezaubernde Frau, sie verstand ganz natürlich und unbefangen zu schmeicheln.
»Nein, lieber Graf, Sie müssen mir erlauben, mich Ihren Töchtern zu widmen! Ich bin zwar nicht für lange hier, Sie auch nicht, aber ich werde mich bemühen, sie aufzuheitern. Ich habe schon in Petersburg viel von Ihnen gehört und wünsche, Sie kennenzulernen«, sagte sie zu Natalie mit ihrem gleichmäßig schönen Lächeln. »Ich habe von Ihnen gehört durch meinen Pagen Drubezkoi – er wird nächstens heiraten, wie ich gehört habe –, und von einem Freund meines Mannes, Bolkonsky«, sagte sie mit besonderem Nachdruck, wodurch sie andeutete, daß sie seine Beziehungen zu Natalie kenne. Sie bat den Grafen, um leichter Bekanntschaft zu machen, möge er einem der Fräulein erlauben, bis zum Ende des Theaters in ihrer Loge Platz zu nehmen, und Natalie ging zu ihr hinüber.
Im dritten Akt wurde auf der Bühne ein Schloß vorgestellt, in dem viele Kerzen brannten und Bilder aufgehängt waren, welche Ritter vorstellten. In der Mitte standen wahrscheinlich der Kaiser und die Kaiserin. Der Zar winkte mit der rechten Hand und augenscheinlich eingeschüchtert sang er etwas ziemlich schlecht. Dann setzte er sich auf den purpurroten Thron. Das Mädchen, welches anfangs im weißen, dann im blauen Kleid erschienen war, stand jetzt im bloßen Hemd mit aufgelöstem Haar vor dem Thron. Sie sang kummervoll, der Kaiserin zugewendet, aber der Zar winkte streng mit der Hand, und von der Seite kamen barfüßige Männer und Frauen mit nackten Beinen heraus und tanzten alle zugleich, während die Violine sehr fein und heiter dazu spielte. Eines der Mädchen mit dicken, nackten Beinen und hageren Armen trennte sich von den übrigen, ging in die Kulissen, zog ihre Taille zurecht, kam in die Mitte heraus und begann zu springen und die Beine auszuwerfen. Im Parterre klatschte alles mit den Händen und schrie Bravo. Dann stellte sich ein Mann in eine Ecke, im Orchester wurde noch lauter gespielt mit Pauken und Trompeten, und dieser Mann mit nackten Beinen begann sehr hoch zu springen und mit den Beinen zu zappeln. Der Mann war Duport, welcher sechzigtausend Francs jährlich für diese Kunst erhielt. Im Parterre und in den Logen klatschte und schrie alles aus aller Kraft, und der Tänzer blieb stehen und verbeugte sich lächelnd nach allen Seiten. Dann tanzten noch andere Männer und Mädchen mit nackten Beinen, dann schrie der Zar wieder etwas dazwischen und alle begannen zu singen. Aber plötzlich entstand ein Sturm, im Orchester hörte man chromatische Läufe und Akkorde, alle sprangen auf und zogen wieder eine der Personen hinter die Kulissen, worauf der Vorhang fiel. Wieder erhob sich bei den Zuschauern ein schrecklicher Lärm, und alles schrie mit entzückten Gesichtern: »Duport! Duport!« Natalie fand das nicht mehr seltsam und blickte sich lachend um.
»Nicht wahr, Duport ist entzückend?« sagte Helene.
»O ja«, erwiderte Natalie.
120
Im Zwischenakt öffnete sich die Tür zu Helenes Loge, und Anatol trat ein. »Erlauben Sie mir, Ihnen meinen Bruder vorzustellen!« Natalie wandte über ihre nackte Schulter ihr hübsches Köpfchen Anatol zu. Er setzte sich zu ihr und sagte, er habe schon lange nach diesem Vergnügen getrachtet. Kuragin war in Gesellschaft von Damen viel geistreicher und einfacher als unter Männern. Er sprach ungezwungen und einfach, und Natalie sah mit Erstaunen, daß an diesem Menschen nicht nur nichts Schreckliches zu bemerken war, wovon sie so viel gehört hatte, sondern im Gegenteil nur ein naives, heiteres Lächeln. Kuragin fragte, wie Natalie die Oper gefalle, und erzählte, wie neulich die Semenow während der Vorstellung gefallen sei.
»Wissen Sie, Gräfin«, sagte er plötzlich, wie zu einer alten Bekannten, »wir werden ein Karussell in Kostümen aufführen, Sie sollten daran teilnehmen! Es wird sehr heiter werden, alle versammeln sich bei Acharow. Ich bitte, kommen Sie! Nicht wahr?«
Während er sprach, ließ er seine lächelnden Blicke über ihr Gesicht, ihren Hals und ihre bloßen Arme schweifen. Natalie sah mit Vergnügen, daß er entzückt war, aber dennoch wurde ihr seine Gegenwart drückend. Wenn sie ihn nicht ansah, fühlte sie seinen Blick auf ihren Schultern, und unwillkürlich wandte sie sich um und fing seinen Blick auf, damit er ihr lieber in die