Trotz dieser Not lebten die Soldaten ebenso wie immer, wenn auch mit bleichen und geschwollenen Gesichtern und zerrissenen Uniformen, putzten die Pferde, schleppten Stroh von den Dächern herbei und scherzten über ihre schlechte Nahrung und über ihren Hunger. Dann rauchten sie und hörten den Erzählungen der Alten von Patjomkins und Suwórows Feldzügen zu. Auch die Offiziere lebten wie gewöhnlich, zu zweien und dreien in halb verfallenen Häusern, ohne Dächer, spielten Karten oder unschuldigere Spiele, wie zum Beispiel Swaika. Von dem allgemeinen Verlauf des Feldzuges sprachen sie wenig, weil sie nichts Bestimmtes wußten, und hauptsächlich, weil sie eine unbestimmte Ahnung hatten, daß die Sache nicht günstig stand. Rostow lebte wie früher mit Denissow zusammen. Obgleich Denissow nie von der Familie Rostows sprach, fühlte Rostow wohl, daß die unglückliche Liebe des Husaren zu Natascha zur Verstärkung ihrer Freundschaft mitwirkte. Denissow war sichtlich bemüht, Rostow keiner Gefahr auszusetzen und begrüßte ihn nach einem Gefecht besonders freudig. Bei einem seiner Streifzüge fand Rostow in einem zerstörten Dorf, wo er nach Proviant gesucht hatte, einen alten Polen und seine Tochter mit einem Brustkind. Sie waren fast unbekleidet und hungrig, und es fehlten ihnen alle Mittel, fortzukommen. Rostow führte sie in sein Quartier und unterhielt sie mehrere Wochen, bis der Alte weiterwandern konnte. Ein Kamerad Rostows lachte darüber und sagte, Rostow sei der Schlaueste, und es wäre keine Sünde, wenn er die Kameraden mit der von ihm geretteten schönen Polin bekannt machen würde. Rostow nahm den Scherz schlecht auf und sagte dem Offizier so zornig unangenehme Dinge, daß Denissow nur mit Mühe ein Duell verhindern konnte.
Als der Offizier gegangen war, und Denissow, der die Beziehungen Rostows zu der Polin selbst nicht kannte, ihm über seine Hitzigkeit Vorwürfe machte, erwiderte Rostow: »Wie kannst du verlangen … Sie ist mir wie eine Schwester, und ich kann dir nicht beschreiben, wie widerlich es mir war, weil … nun, wegen …«
Denissow klopfte ihm auf die Schulter und ging hastig im Zimmer auf und ab, ohne Rostow anzusehen, wie immer in Augenblicken innerlicher Aufregung.
»Ach, was seid ihr für ein merkwürdiges Volk, ihr Rostows!« sagte er, und Rostow bemerkte Tränen in seinen Augen.
83
Im April wurde das Heer neu belebt durch die Nachricht von der Ankunft des Kaisers beim Heer. Rostow gelang es nicht, zu der Parade zu kommen, welche der Kaiser in Bartenstein abhielt, da die Husaren weit vor diesem Städtchen auf Vorposten standen.
Denissow und Rostow wohnten in einer von den Soldaten für sie ausgegrabenen Erdhütte. Rostow war auf Wache gewesen und kehrte um acht Uhr morgens nach einer durchwachten Nacht nach Hause zurück, wechselte seine vom Regen durchnäßte Kleidung, betete, trank Tee, wärmte sich und räumte seine Sachen in seinem Winkelchen auf. Dann legte er sich in Hemdsärmeln auf den Rücken, mit den Händen unter dem Kopf, dachte mit Behagen daran, daß er bald einen höheren Rang erhalten werde, und erwartete Denissow, der ausgegangen war.
Bald vernahm er die Stimme Denissows, welche mit Heftigkeit sprach. Rostow sah zum Fenster hinaus und erblickte den Wachtmeister Tontschejenko.
»Ich habe dir doch befohlen, du sollst sie nicht diese Wurzel fressen lassen!« schrie Denissow. »Und jetzt habe ich Lasartschuk auf dem Feld erwischt!«
»Ich habe es verboten, Euer Hochwohlgeboren, aber sie gehorchen nicht«, erwiderte der Wachtmeister.
Rostow legte sich behaglich wieder auf sein Bett. Draußen hörte er Denissow rufen: »Der zweite Zug satteln!«
Nach fünf Minuten kam Denissow in die Hütte, legte sich mit schmutzigen Stiefeln auf das Bett, rauchte zornig eine Pfeife, warf alle seine Sachen durcheinander, nahm Peitsche und Säbel und ging hinaus. Auf Rostows Frage: »Wohin?« gab er nur eine unverständliche Antwort. »Gott und der Kaiser mögen mich richten«, sagte Denissow, und Rostow hörte, wie einige Pferde draußen durch den Schlamm vorübergingen. Rostow kümmerte sich nicht darum, wohin Denissow ritt. Er schlief ein, und erst gegen Abend kam er wieder aus der Hütte hervor. Denissow war noch nicht zurückgekehrt. Rostow ging hinüber in die nächste Hütte, wo zwei Offiziere mit einem Junker Swaika spielten. Plötzlich erblickten sie einen herankommenden Wagenzug, dem etwa fünfzehn Husaren auf abgemagerten Pferden folgten.
»Seht doch, Denissow hat sich die Sache zu Herzen genommen«, sagte Rostow, »und hat Proviant angeschafft.«
»Wirklich!« riefen die Offiziere. »Wie werden sich die Soldaten freuen!«
Etwas hinter den Husaren ritt Denissow, begleitet von zwei Infanterieoffizieren, mit denen er sprach. Rostow ging ihm entgegen.
»Ich warne Sie, Rittmeister«, sagte der eine, ein kleinerer, schmächtiger, augenscheinlich zorniger Offizier.
»Ich habe Ihnen schon gesagt, ich gebe nichts heraus«, erwiderte Denissow.
»Dafür werden Sie zur Verantwortung gezogen werden, Rittmeister! Das ist Gewalttat! Den eigenen Kameraden den Proviant wegnehmen! Die unsrigen haben seit zwei Tagen nichts gegessen!«
»Und die meinigen haben seit zwei Wochen nichts gegessen«, erwiderte Denissow.
»Das ist Raub, mein Herr!« wiederholte der Infanterieoffizier mit lauter Stimme.
»Was wollen Sie eigentlich von mir?« schrie Denissow, plötzlich in Zorn geratend. »Ich werde es verantworten, nicht Sie! Hören Sie auf mit Ihrem Gefasel! Marsch!« schrie er den Offizier an.
»Gut«, rief der kleine Offizier, ohne sich einschüchtern zu lassen, »das ist Straßenraub! Und ich werde Ihnen …«
»Zum Teufel! Marsch im Geschwindschritt, solange Sie noch bei heiler Haut sind!« Und Denissow wandte sein Pferd gegen die Offiziere um.
»Gut, gut«, sagte der Offizier drohend, wandte sein Pferd und ritt im Trab davon.
»Ein Hofhund!« sagte Denissow und ritt lachend Rostow entgegen. »Der Infanterie habe ich mit Gewalt einen Transport weggenommen«, sagte er, »man kann doch die Leute nicht verhungern lassen!«
Die Wagen waren für ein Infanterieregiment bestimmt gewesen, aber Denissow, welcher von Lawruschka benachrichtigt worden war, hatte mit seinen Husaren die Wagen mit Gewalt weggenommen. Die Soldaten erhielten Zwieback, soviel sie wollten, und teilten sogar den anderen Schwadronen davon mit.
Am andern Tag rief der Oberst Denissow zu sich und sagte ihm, indem er die Augen mit den Fingern bedeckte: »Ich will Ihnen sagen, wie ich die Sache ansehe. Ich weiß von nichts und werde auch nach nichts fragen, aber ich rate Ihnen, zum Stab zu reiten und dort in der Proviantverwaltung die Sache wieder gutzumachen, wennmöglich durch eine Quittung, daß Sie soundsoviel Proviant erhalten haben. Sonst endigt die Sache schlimm.«
Denissow ritt sogleich zum Stab, um diesen Rat zu befolgen. Abends kehrte er in seine Hütte in einem Zustand zurück, wie ihn Rostow noch niemals gesehen hatte. Denissow konnte nicht sprechen und keuchte. Als Rostow ihn fragte, was ihm sei, brachte er mit heiserer, schwacher Stimme nur unverständliche Schimpfworte und Drohungen hervor. Erschrocken sandte Rostow zum Arzt.
»Man will mich wegen Raub vor Gericht stellen! – Gib mir noch Wasser her! – Mir ist alles gleich! Schurken werde ich immer durchhauen! Und dem Kaiser werde ich’s sagen! Gib Eis her!« rief er.
Der