»Höre, Andree«, sagte Marie vom Bettchen her, an dem sie stand, »es ist besser, noch zu warten … später!«
»Ach, Unsinn! Immer warten und warten«, flüsterte Fürst Andree. Es war schon die zweite Nacht, daß die beiden nicht schliefen und bei dem fiebernden Kleinen wachten. Fürst Andree traute seinem Hausarzt nicht, und während er einen Arzt aus der Stadt erwartete, wurde bald dieses, bald jenes Mittel versucht. Ermüdet von den schlaflosen Nächten wälzten sie einander ihren Kummer und ihre Vorwürfe zu und zankten sich.
»Der Kutscher ist mit Briefen angekommen«, flüsterte das Dienstmädchen. Fürst Andree ging hinaus.
Der Kutscher überbrachte ihm einen mündlichen Auftrag von dem alten Fürsten. Andree nahm die Briefe und Karten und kehrte in das Kinderzimmer zurück.
»Nun, wie ist’s?« fragte er.
»Immer noch wie bisher. Warte noch«, um Himmels willen! Karl Iwanitsch hat immer gesagt, der Schlaf sei das Kostbarste!« flüsterte Marie seufzend.
Fürst Andree ging zu dem Kinde und befühlte es. Es glühte.
»Geh mir mit deinem Karl Iwanitsch!« Er ergriff das Glas mit der Medizin.
»Andree, laß es!« sagte Fürstin Marie. Aber er sah sie zornig an und beugte sich zu dem Kind herab. »Ich will es aber«, sagte er, »ich bitte dich, gib es ihm!«
Marie zuckte mit den Achseln, ergriff aber gehorsam das Glas, rief die Wärterin herbei und gab dem Kinde die Medizin. Es schrie und röchelte. Fürst Andree faßte sich in die Haare, verließ das Zimmer und setzte sich im Nebenzimmer auf den Diwan. Dort öffnete er die Briefe und begann zu lesen. Der alte Fürst schrieb mit großen, langen Buchstaben folgendes: »Eine sehr freudige Nachricht ist durch den Kurier eingetroffen. Bennigsen hat bei Eylau einen vollen Sieg über Napoleon errungen. In Petersburg ist alles in Jubel. Wenn er auch ein Deutscher ist – ich gratuliere ihm! Wenn sich nicht Unberufene einmischten, so hat auch ein Deutscher den Bonaparte geschlagen. Man sagt, er sei in die Flucht gejagt.« Fürst Andree öffnete einen andern Brief. Es waren zwei engbeschriebene Blätter von Bilibin. Er las ihn, ohne auch nur die Hälfte zu verstehen, nur um auf einen Augenblick die Gedanken zu vergessen, die ihn schon lange quälten. Bald aber las er mit steigendem Interesse. Doch plötzlich zerknitterte er den Brief und warf ihn weg. Nicht was er las, erregte seinen Zorn, sondern daß die dortigen Vorgänge, diese ihm jetzt fremde Welt, ihn noch erregen konnten. Er schloß die Augen und wischte seine Stirn ab. Plötzlich glaubte er einen eigentümlichen Laut im andern Zimmer zu vernehmen; eine Angst befiel ihn, er ging auf den Zehenspitzen an die Tür des Kinderzimmers und öffnete diese. Marie stand nicht mehr am Bettchen.
»Andree!« flüsterte Marie, wie er glaubte in verzweifeltem Tone. Wie es nach vielem Nachtwachen und langer Aufregung vorkommt, befiel ihn eine grundlose Angst; er glaubte, das Kind sei im Sterben.
»Alles ist aus!« dachte er und kalter Schweiß trat auf seine Stirn. Er trat an das Bettchen, überzeugt, daß er es leer finden werde, öffnete den Vorhang und erblickte das gerötete Gesicht des Knaben, welcher sich quer über das Bettchen gelegt hatte, im Schlaf schmatzte und gleichmäßig atmete. Fürst Andree war erfreut, als ob er den kleinen Sohn schon verloren hätte. Die kleine Stirn war feucht, auch die Haare waren naß, so stark schwitzte der Kleine. Er war nicht im Sterben, sondern im Gegenteil, eine Krisis war eingetreten, welche die Wendung zur Genesung herbeiführte. Er wollte das kleine hilflose Wesen an die Brust drücken, wagte es aber nicht. Neben sich vernahm er ein Rauschen und erkannte Marie, die mit leisen Schritten sich dem Bettchen genähert hatte. Fürst Andree streckte ihr die Hand entgegen, die sie drückte.
»Er liegt im Schweiß«, sagte sie. »Ich war zu dir gegangen, um es dir zu sagen.« Das Kind lächelte im Schlaf und wischte die Stirn am Kissen ab. Fürst Andree blickte die Schwester an; in ihren Augen glänzten Freudentränen. Sie umfaßte den Bruder und küßte ihn, dann drohten sie einander mit dem Finger. Fürst Andree verließ zuerst das Bettchen. »Das ist das einzige, was mir noch geblieben ist«, sagte er mit einem Seufzer.
81
Bald nach seiner Aufnahme in die Brüderschaft der Freimaurer fuhr Peter auf seine Güter im Kiewschen Gouvernement, wo sich der größte Teil seiner Leibeigenen befand. Nach seiner Ankunft berief er alle seine Verwalter zu sich, um ihnen seine Absichten und Wünsche mitzuteilen. Er sagte ihnen, es sollten sofort Maßregeln zur vollständigen Befreiung der Bauern aus der Leibeigenschaft ergriffen werden. Die Bauern sollten nicht mit Arbeit überlastet werden; Frauen und Kinder sollten nicht zur Arbeit geschickt werden; man solle den Bauern Unterstützung und Hilfe gewähren und sie nicht mit Leibesstrafen, sondern durch Ermahnungen zu bessern suchen, und auf jedem Gut sollten Krankenhäuser, Kinderbewahranstalten und Schulen errichtet werden. Einige Verwalter hörten mit Schrecken zu, da sie den Sinn der Rede so auffaßten, der junge Graf sei unzufrieden über ihre Verwaltung und über Unterschleife. Andere fanden nach dem ersten Schrecken das Lispeln Peters und seine neuen, noch nie gehörten Worte spaßhaft; noch andere fanden einfach Vergnügen daran, zuzuhören, wie der Herr sprach. Die allerklügsten aber, und darunter auch der Oberverwalter, lernten aus dieser Rede, auf welche Weise man den Herrn behandeln müsse, um die eigenen Ziele zu erreichen. Der Oberverwalter drückte lebhafte Teilnahme für die Absichten Peters aus, bemerkte aber, daß es notwendig sei, noch vor Einführung dieser Reformen verschiedene Angelegenheiten zu erledigen, welche der Verbesserung bedürftig seien. Trotz des ungeheuren Reichtums des Grafen Besuchow, der ihm eine Einnahme von, wie man sagte, fünfmalhunderttausend Rubel jährlich lieferte, fühlte sich Peter doch jetzt viel weniger reich als früher, wo er zehntausend Rubel von dem verstorbenen Grafen erhielt. In allgemeinen Umrissen war das Budget folgendes: An den Pupillenrat waren achtzigtausend zu zahlen von sämtlichen Gütern, dreißigtausend kostete die Unterhaltung der Häuser in und bei Moskau und der Fürstinnen, an Pensionen wurden fünfzehntausend gezahlt und ebensoviel für Wohltätigkeitsanstalten. Die Gräfin erhielt hundertfünfzigtausend Rubel; an Zinsen für Schulden waren ungefähr siebzigtausend Rubel zu zahlen; der angefangene Bau einer Kirche kostete in diesen zwei Jahren etwa zehntausend, der Rest von hunderttausend Rubel wurde ausgegeben – er wußte selbst nicht wie, und fast jedes Jahr war er genötigt, Anleihen zu machen. Außerdem schrieb noch jedes Jahr der Oberverwalter bald über Feuersbrünste, bald über Mißernten, bald über die Notwendigkeit von Neubauten in den Fabriken. Somit war das erste und Nötigste, was Peter bevorstand, eben das, wozu er am wenigsten Neigung und Fähigkeiten hatte – nämlich die Wahrnehmung von Geschäftsangelegenheiten. Jeden Tag saß Peter mit dem Oberverwalter zusammen, um sich den Geschäften zu widmen, aber er sah ein, daß seine Tätigkeit die Sache nicht um einen Schritt förderte. Einerseits stellte der Oberverwalter die Sache im schlimmsten Licht dar, wies Peter auf die Notwendigkeit hin, die Schulden zu bezahlen und neue Arbeiten durch Fronen der Bauern vorzunehmen, wozu Peter nicht seine Zustimmung gab. Andererseits verlangte Peter, daß die Freilassung der Bauern eingeleitet werde; der Verwalter aber setzte diesem Verlangen die Notwendigkeit entgegen, vor allem die Schuld an den Pupillenrat zu bezahlen, und auch die Unmöglichkeit einer schnellen Erfüllung dieses Wunsches. Der Verwalter sagte nicht, es sei ganz unmöglich, sondern schlug vor, zur Erreichung dieses Zweckes die Wälder im Kostromaschen Gouvernement und das Gut in der Krim zu verkaufen. Aber alle diese Operationen waren nach der Darstellung des Verwalters mit so viel komplizierten Prozessen und Gerichtsverhandlungen verbunden, daß Peter, ganz ratlos, nur zu antworten vermochte: »Nun ja, machen Sie es so!«
Peter war nicht imstande, unmittelbar in die Geschäfte einzugreifen, und deshalb suchte er sich nur vor dem Verwalter ein Ansehen zu geben, als ob er die Geschäfte leiten wolle. Der Verwalter aber bemühte sich seinerseits,