Peter wandte sich ab, aber wieder hörte er ein entsetzliches Krachen. Eine Rauchwolke erhob sich, wieder sah er die bleichen, erschrockenen Gesichter der Franzosen, welche hastig bei der Säule einander drängten. Auf allen Gesichtern der Russen, der französischen Soldaten sowie der Offiziere las er dasselbe Entsetzen, das in seinem Herzen herrschte. »Wer tut das?« fragte er sich. »Alle leiden darunter ebenso wie ich! Wer, wer aber tut das?«
»Die Schützen des sechsundachtzigsten Regiments vor!« wurde gerufen. Man führte den fünften, der neben Peter stand, an die Säule, aber allein. Peter begriff nicht, daß er gerettet sei, daß er und alle übrigen hierhergeführt worden waren, nur um bei der Hinrichtung zugegen zu sein. Er beobachtete immer noch mit Entsetzen, ohne Freude oder Beruhigung zu empfinden, das, was vorging. Der fünfte war der Fabrikarbeiter. Als man auf ihn zukam, sprang er entsetzt zurück und hielt sich an Peter fest. Peter fuhr zusammen und riß sich los von ihm. Der Fabrikarbeiter konnte nicht gehen, sie hielten ihn unter den Armen, und er rief etwas. Aber als er an die Säule geführt wurde, verstummte er, als ob er plötzlich begriffen hätte, daß es vergeblich sei, zu schreien, oder daß es unmöglich sei, daß man ihn töten werde. – Er stand wartend bei dem Pfahl und blickte sich mit funkelnden Augen um.
Peter vermochte nicht, sich umzuwenden und die Augen zu schließen, die Neugierde und Aufregung erreichten bei ihm und allen Zuschauern bei diesem fünften Mord die höchste Stufe. Wie die anderen benahm sich auch dieser fünfte ruhig. Er zog die Schöße seines langen Rocks zusammen und rieb mit dem einen bloßen Fuß den anderen. Als man ihm die Augen verband, zog er selbst den Knoten im Genick zur Seite, der ihn einschnitt. Als man ihn an die blutige Säule stellte, suchte er selbst eine bequeme Stellung und lehnte sich ruhig zurück. Peter konnte keinen Blick von ihm abwenden.
Wahrscheinlich ertönte ein Kommando, wahrscheinlich folgten auf das Kommando die Schüsse aus acht Gewehren, aber Peter vermochte sich nicht mehr daran zu erinnern. Er sah nur, wie der Fabrikarbeiter sich in den Stricken fing, wie an zwei Stellen Blut hervortrat, wie die Stricke wegen der Schwere seines Körpers nachgaben, und der Fabrikarbeiter mit tief herabhängendem Kopf und untergebogenen Beinen in eine sitzende Stellung hinabglitt. Peter eilte an die Säule, und niemand hielt ihn zurück. Um den Fabrikarbeiter waren Leute mit bleichen, entsetzten Gesichtern beschäftigt. Einem alten, bärtigen Franzosen zitterte die Kinnlade, als er die Stricke losband. Die Leiche fiel nieder, und die Soldaten zogen sie hastig zur Grube. Alle wußten augenscheinlich, daß sie Verbrecher waren und so schnell wie möglich die Spuren ihres Verbrechens beseitigen mußten. Peter blickte in die Grube und sah, daß der Fabrikarbeiter dort mit den Knien nach oben, nahe zum Kopf heraufgezogen lag, die eine Schulter zuckte krampfhaft. Aber schon wurde Erde hineingeschaufelt. Einer der Soldaten schrie Peter zornig an, er solle sich packen, aber Peter verstand ihn nicht und blieb an der Säule stehen, von wo ihn niemand vertrieb.
Als die Grube zugeschaufelt war, hörte er ein Kommando. Peter wurde an seinen Platz geführt, und die französischen Soldaten, die in zwei Reihen zu beiden Seiten der Säule standen, machten eine halbe Wendung und gingen mit gemessenen Schritten an dem Pfahl vorüber. Vierundzwanzig Schützen, welche in der Mitte des Kreises standen, kehrten im Lauf an ihre Stellen zurück, während die Abteilung an ihnen vorüberging.
217
Nach der Hinrichtung wurde Peter von den anderen Gefangenen getrennt und blieb allein in einer kleinen, zerstörten und halb verbrannten Kirche. Gegen Abend kam ein Unteroffizier mit zwei Soldaten und teilte Peter mit, er sei begnadigt und komme jetzt in die Baracken der Kriegsgefangenen. Ohne zu begreifen, was man ihm sagte, stand Peter auf und ging mit den Soldaten. Man führte ihn in einen Verschlag, der aus halb verbrannten Brettern und Balken aufgeführt war. In der Dunkelheit umgaben Peter etwa zwanzig verschiedene Menschen. Peter sah sie an, ohne zu begreifen, was das für Leute seien und was sie von ihm wollten. Er vernahm die Worte, die sie zu ihm sprachen, ohne sie zu begreifen. In diesem Verschlag, in dem Peter vier Wochen zubrachte, waren dreiundzwanzig gefangene Soldaten, drei Offiziere und zwei Beamte. Alle erschienen in seiner Erinnerung später nur nebelhaft, mit Ausnahme von Platon Karatajew, einem alten Soldaten, der ihm stets eine lebhafte und teure Erinnerung blieb. Als Peter am andern Morgen diesen seinen Nachbarn erblickte, bestärkte sich sein erster Eindruck von etwas Rundem noch mehr, die ganze Gestalt Karatajews mit seinem französischen Mantel und seiner Mütze war rund, der Kopf war vollkommen rund, der Rücken, die Brust, die Schultern, sogar die Hände, welche er immer so hielt, als ob er etwas umarmen wollte, waren ebenfalls rund, auch sein freundliches Lächeln und die großen, schwarzen Augen waren rund. Er mochte etwa fünfzig Jahre zählen, kannte aber selber nicht sein Alter. Aber seine Zähne waren schön und vollständig, kein einziges graues Haar war in seinem Bart und sein ganzer Körper hatte ein Ansehen von Gewandtheit, Festigkeit und Ausdauer. Sein Gesicht hatte einen naiven, sogar jugendlichen Ausdruck.
218
Als Fürstin Marie von Nikolai erfuhr, daß ihr Bruder sich bei Rostows in Jaroslaw befinde, machte sie sich sogleich reisefertig, und nicht allein, sondern mit ihrem Neffen. Sie fragte nicht, ob es möglich sei. Es war ihre Pflicht, bei ihrem sterbenden Bruder zu sein und ihm seinen Sohn zu bringen. Daß Fürst Andree ihr selbst keine Nachricht gab, erklärte sie sich damit, daß er zu schwach sei, um zu schreiben, oder daß er die Reise für sie zu mühsam und gefährlich fand. Nach einigen Tagen machte sich Marie auf den Weg in einem großen fürstlichen Wagen, einem leichten Wagen und einem Lastwagen. Mit ihr fuhren Mademoiselle Bourienne, Nikolai, ihr Neffe mit seinem Lehrer, ihre alte Amme, drei Zofen, ferner Tichon, ein junger Diener und ein Heiduck.
An den geraden Weg über Moskau war nicht zu denken, deshalb mußte die Fürstin Marie einen Umweg über Lipezk, Räsan, Wladimir und Schuja machen. Die letzte Zeit ihres Aufenthalts in Woronesch war die glücklichste Zeit ihres Lebens. Ihre Liebe zu Rostow quälte und erregte sie nicht mehr, sondern erfüllte ihre ganze Seele mit stillem Glück und sie kämpfte nicht mehr dagegen. In der letzten Zeit hatte sie sich überzeugt, daß sie geliebt wurde und liebte, hauptsächlich durch ihr letztes Gespräch mit Nikolai, als er kam, um sie zu benachrichtigen, daß ihr Bruder bei seinen Eltern sei. Nikolai spielte mit keinem Wort darauf an, daß die früheren Beziehungen des Fürsten Andree zu Natalie sich erneuern könnten, wenn er genesen werde, aber Marie sah an seinem Gesicht, daß er daran dachte. Fürstin Marie wußte, daß sie zum ersten-und letztenmal im Leben liebte und daß sie geliebt wurde, und war glücklich und ruhig darüber. Während der Reise dachte sie, wie immer, nur an die Reise selbst, aber als sie sich Jaroslaw näherten, erinnerte sie sich auch an den Zweck der Reise, und an diesem Abend erreichte ihre Aufregung die höchste Stufe. Als der vorausgesandte Heiduck, der sich in Jaroslaw nach Rostows und über den Zustand des Fürsten Andree erkundigen sollte, vor der Stadt den großen Reisewagen traf, erschrak er über das schrecklich bleiche Gesicht der Fürstin, als sie sich aus dem Wagen bog.
»Ich habe alles erfahren, Erlaucht. Graf Rostow wohnt am Marktplatz, nicht weit von der Wolga.«
Marie blickte ihn erschrocken und fragend an, weil er ihre wichtigste Frage nach ihrem Bruder nicht beantwortete.
»Und der Fürst?« fragte Mademoiselle Bourienne.
»Wohnt bei ihnen in demselben Hause.«
»Also lebt er wenigstens«, dachte Marie. »Aber was macht er?«
»Die Leute sagen, es sei noch wie bisher.«
Was das bedeute, »wie bisher«, danach fragte Marie nicht mehr. Bald hielt der Wagen vor dem bezeichneten Hause. Zur Linken lag der Fluß, zur Rechten die Haustür. Verschiedene Dienstleute kamen heraus und dann auch ein rotwangiges Mädchen mit einem großen schwarzen Zopf, das unbefangen lächelte, wie Marie schien. Das war Sonja.