Die Gouverneurin drückte ihm dankbar den Arm.
»Sie kennen Sonja, meine Cousine? Ich liebe sie und habe versprochen, sie zu heiraten … Deshalb sehen Sie, daß davon nicht die Rede sein kann«, schloß Nikolai verlegen und errötend.
»Aber was redest du da? Sonja hat nichts, und du hast selbst gesagt, die Umstände deines Vaters seien sehr schlecht, und deine Mutter! Das würde sie ins Grab bringen! Und wenn Sonja ein Mädchen mit Herz ist, welches Leben wird das für sie sein? Die Mutter in Verzweiflung, die Umstände zerrüttet. – Nein, mein Lieber, du und Sonja – ihr müßt das begreifen.« Nikolai schwieg. Es war ihm angenehm, diese Beweisführung anzuhören. »Aber dennoch, Tantchen, kann es nicht sein«, sagte er seufzend. »Und wird mich die Fürstin auch heiraten? Jetzt ist sie in Trauer, kann man jetzt daran denken?«
»Glaubst du denn, daß ich dich sofort verheiraten wolle? Alles muß seine Art haben«, sagte die Gouverneurin.
Nikolai küßte ihr dickes Händchen.
211
In Moskau traf die Fürstin Marie ihren Neffen mit einem Hauslehrer und einem Brief vom Fürsten Andree mit dem Auftrag, nach Woronesch zur Tante Malwinzew zu reisen. Die Reisevorbereitungen, die Sorge um den Bruder, die Einrichtung in einem neuen Hause, die neue Umgebung und die Erziehung des Neffen – das alles übertäubte im Herzen der Fürstin Marie das Gefühl, das während der Krankheit und nach dem Tode ihres Vaters und besonders nach der Begegnung mit Rostow sie beständig gequält hatte wie eine Versuchung. Sie fand sich in sehr gedrückter und sorgenvoller Stimmung. Als am Tage nach der Abendgesellschaft die Gouverneurin zu Maries Tante Malwinzew kam, und ihre Pläne bei dieser Dame günstige Aufnahme gefunden hatten, sprach sie mit der Fürstin Marie über Rostow, den sie sehr rühmte, und erzählte, wie er bei Erwähnung ihres Namens errötet sei. Marie empfand dabei aber kein freudiges Gefühl. Ihr innerer Gleichmut verschwand und wieder erhoben sich Wünsche, Zweifel, Vorwürfe und Hoffnungen.
Aber als am Sonntagvormittag der Diener im Salon den Grafen Rostow meldete, zeigte die Fürstin keine Verlegenheit, nur eine leichte Röte erschien auf ihren Wangen und ihre Augen strahlten in einem neuen Licht. Als Rostow ins Zimmer trat, senkte die Fürstin den Kopf, um dem Gast Zeit zu lassen, ihre Tante zu begrüßen, und als darauf Nikolai sich an sie wandte, begegneten ihre strahlenden Augen seinen Blicken. Mit einer Bewegung von Würde und Grazie streckte sie ihm ihre zarte Hand entgegen und begann mit ihm ein Gespräch mit einer Stimme, in welcher zum erstenmal neue weibliche Brusttöne erklangen. Mademoiselle Bourienne blickte Marie erstaunt an. Sie hätte als erfahrene Kokette selbst nicht besser manövrieren können beim Empfang eines Mannes, dem sie gefallen wollte. »Entweder steht ihr das Schwarz gut, oder sie ist wirklich hübsch geworden, ohne daß ich es bemerkte. Und dieser Takt! Diese Grazie!« dachte Mademoiselle Bourienne. Auch Marie würde sich verwundert haben. In dem Augenblick, als sie das geliebte Gesicht erblickte, fühlte sie sich von einer neuen Kraft beherrscht, welche ihre Reden und Handlungen bestimmte.
Auch Rostow sah dies alles deutlich und fühlte, daß das Wesen, das er erblickte, ein ganz anderes, besseres war als alle diejenigen, mit denen er bisher in Berührung gekommen war, und – was das Wichtigste war – ein besseres als er selbst. Das Gespräch war sehr einfach und unbedeutend. Man sprach vom Krieg, von den Vorfällen auf dem Gut, von der gutmütigen Gouverneurin und von den beiderseitigen Verwandten. Während des kurzen Besuchs von Nikolai wurden die Pausen des Gesprächs, wie immer, wo Kinder sind, von dem kleinen Sohne des Fürsten Andree ausgefüllt. Nikolai fragte ihn, ob er Husar werden wolle, nahm den Knaben scherzend auf den Arm und bemerkte die gerührten, glücklichen Blicke der Fürstin, mit denen sie den Knaben auf dem Arm des geliebten Mannes betrachtete.
Fürstin Marie ging wegen der Trauer nicht in Gesellschaft, Nikolai aber hielt es nicht für passend, öfter zu erscheinen. Aber die Gouverneurin setzte ihre Heiratsvermittlung fort und berichtete Nikolai, was Fürstin Marie Schmeichelhaftes über ihn gesagt hatte, und umgekehrt, und bestand darauf, daß Rostow sich mit der Fürstin Marie aussprechen sollte. Rostow aber war überzeugt, daß es eine Niedrigkeit gewesen wäre, nachdem er sich mit Sonja verlobt hatte, der Fürstin Marie seine Gefühle auszusprechen, er wußte auch, daß er niemals eine Niedrigkeit begehen werde, er wußte aber auch, daß er nicht nur nichts Böses tun würde, wenn er sich dem Einfluß der Umstände und der Menschen hingeben würde, sondern daß er damit etwas sehr Wichtiges tun würde, wie niemals in seinem Leben.
212
Die schreckliche Nachricht von der Schlacht bei Borodino, von unseren Verlusten und die noch schrecklichere Nachricht vom Verluste Moskaus trafen in Woronesch in der Mitte des September ein. Marie hatte nur aus den Zeitungen von der Verwundung ihres Bruders erfahren und beschloß, ihn aufzusuchen, da sie keine weiteren Nachrichten von ihm erhalten hatte. Rostow ließ es keine Ruhe mehr in Woronesch, er beeilte sich, seinen Pferdeeinkauf zu beendigen, und geriet oft ungerechterweise in Hitze über seinen Diener und den Wachtmeister. Einige Tage vor Rostows Abreise fand in der Kathedrale ein Gebet für den Sieg der russischen Waffen statt, Rostow stand etwas hinter dem Gouverneur Und hörte mit würdiger Miene den Gottesdienst an, während er an die verschiedenartigsten Dinge dachte.
»Hast du die Fürstin gesehen?« fragte ihn die Gouverneurin am Schlusse der Feier, indem sie mit dem Kopf nach einer schwarzgekleideten Dame deutete, welche nahe dem Altar stand.
Nikolai erkannte sogleich Marie, weniger an ihrem Profil als an dem Gefühl der Ehrfurcht und des Bedauerns, das ihn sogleich befiel. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck des Kummers und andächtiger Hoffnung. Unwillkürlich trat Rostow auf sie zu.
»Ich wollte Ihnen sagen, Fürstin«, begann er, »daß, wenn Fürst Andree nicht mehr am Leben wäre, das sogleich in den Zeitungen bekanntgemacht worden wäre, da er Regimentskommandeur ist.«
Die Fürstin sah ihn an, ohne seine Worte zu verstehen, aber erfreut über den Ausdruck von Mitgefühl, den sie auf seinem Gesicht las.
»Ich weiß aus vielen Beispielen, daß eine Verwundung durch Granatsplitter entweder sogleich tödlich oder sehr leicht ist. Man muß das Beste hoffen, und ich bin überzeugt …«
»O, das wäre schrecklich!« unterbrach ihn Marie. Sie beugte mit einer graziösen Bewegung den Kopf, blickte ihn dankbar an und ging zu ihrer Tante.
Am Abend dieses Tages war Nikolai zu Hause geblieben, um einige Abrechnungen mit Pferdehändlern zu beendigen. Als er damit fertig geworden war, war es schon zu spät geworden, um auszugehen, aber es war noch zu früh, um sich schlafen zu legen, und Nikolai ging in tiefen Gedanken auf und ab.
Fürstin Marie hatte bei Smolensk einen angenehmen Eindruck auf ihn gemacht, welcher sich in Woronesch noch bedeutend verstärkte. »Sie muß ein wunderbares Mädchen sein« sagte er. »Warum bin ich nicht frei, warum habe ich mich mit Sonja übereilt?« Und unwillkürlich begann er, beide miteinander zu vergleichen und versuchte sich vorzustellen, was er tun würde, wenn er frei wäre.
Lawruschka trat ein und brachte ihm zwei Briefe. Der eine war von seiner Mutter, der andere von Sonja, und diesen erbrach er zuerst. Kaum hatte er einige Zeilen gelesen, als sein Gesicht erbleichte und seine Augen in freudigem Schrecken erglänzten.
»Nein, das kann nicht sein«, sagte er laut, sprang auf und ging im Zimmer umher. Hastig durchlas er den Brief mehrmals und blieb mitten im Zimmer mit offenem Munde stehen. Was er noch soeben so innig herbeigewünscht hatte, war jetzt erfüllt.