»Liebe! Was ist Liebe?« dachte er. »Liebe hindert nur am Sterben. Liebe ist das Leben! Alles, was ich begreife, begreife ich nur deshalb, weil ich liebe, alles existiert nur deshalb, weil ich liebe, alles ist nur durch sie verbunden. Die Liebe ist Gott, und zu sterben bedeutet für mich ein Teilchen von Liebe, die Rückkehr zur gemeinschaftlichen, ewigen Quelle.« Diese Gedanken waren ihm tröstlich, aber es waren nur Gedanken, es fehlte etwas in ihnen, es war etwas Einseitiges – es fehlte die Augenscheinlichkeit, und deshalb herrschte wieder dieselbe Unruhe und Undeutlichkeit. Er erwachte.
Er hatte geträumt, daß er in demselben Zimmer liege, aber nicht verwundet sei, sondern gesund. Viele unbedeutende, gleichgültige Personen erschienen vor ihm, er sprach mit ihnen und stritt über etwas Geringfügiges. Die Leute waren im Begriff, fortzufahren. Fürst Andree hatte eine unklare Vorstellung davon, daß alles das nichtig sei, und daß er wichtigere Aufgaben habe, aber er fuhr fort, zu sprechen und sie durch leere, gesuchte Reden in Verwunderung zu setzen. Nach und nach begannen diese Personen zu verschwinden und alles verwandelte sich in die eine Frage über die geschlossene Tür. Er steht auf und geht an die Tür, um den Riegel vorzuschieben und sie zu verschließen. Ob es ihm gelingt oder nicht, sie zu verschließen, davon hängt alles ab. Er will eilig gehen, aber seine Füße kommen nicht von der Stelle, und er weiß, daß es ihm nicht gelingen wird, die Tür zu verschließen, aber dennoch macht er krampfhafte Anstrengungen. Schrecken überfällt ihn, und dieser Schrecken ist der Schrecken des Todes. Hinter der Tür steht er. Aber während er verzweifelt der Tür zustrebt, stürzt sich etwas Entsetzliches von der anderen Seite auf sie, etwas Übermenschliches, der Tod, wirft sich gegen die Tür, und man muß sie festhalten. Er stemmt sich gegen die Tür mit äußerster Anstrengung, aber es ist nicht mehr möglich, sie zu verschließen, er will sie nur wenigstens festhalten. Doch seine Kräfte sind zu gering, die Tür öffnet sich und schließt sich wieder.
Nochmals wurde von der anderen Seite auf die Tür gedrückt. Die letzten übermenschlichen Anstrengungen waren vergebens, und beide Flügel öffneten sich geräuschlos, er kam herein, der Tod, und – Fürst Andree starb.
Aber in dem Augenblick, wo er starb, erinnerte sich Fürst Andree, daß er träumte, und nach einer starken Anstrengung erwachte er.
»Ja, das war der Tod, ich war gestorben und jetzt bin ich erwacht.« –
»Ja, der Tod ist ein Erwachen!« rauschte es plötzlich in seiner Seele, und der Vorhang, der bisher das Unbekannte verborgen hatte, erhob sich vor seinem geistigen Blick. Er empfand ein Gefühl der Befreiung der früher in ihm gebundenen Kraft, sowie jene seltsame Leichtigkeit. Als er im kalten Schweiß gebadet auf dem Diwan lag, trat Natalie ihm näher und fragte, wie er sich fühle. Er gab keine Antwort und schien ihre Worte nicht zu verstehen und sah sie mit einem seltsamen Blick an. Das war es eben, was zwei Tage vor Marias Ankunft mit ihm vorgegangen war. Von diesem Tage an, wie der Arzt sagte, nahm sein Fieberzustand einen bösartigen Charakter an, aber Natalie interessierte nicht das, was der Arzt sagte, sie beobachtete diese schrecklichen, für sie überzeugenderen Anzeichen in seinem Charakter.
Von diesem Tage an begann für den Fürsten Andree mit dem Erwachen aus dem Traum zugleich das Erwachen aus dem Leben, und im Verhältnis zur Dauer des Lebens erschien ihm dieses Erwachen nicht langsamer als das Erwachen aus dem Traum im Verhältnis zur Dauer des Traumgesichts.
Nichts Schreckliches lag in diesem vergleichsweise langsamen Erwachen. Seine letzten Tage und Stunden gingen in gewöhnlicher, einfacher Weise vorüber, das fühlten sowohl Marie als Natalie, welche beide nicht von seinem Bett wichen. Sie weinten und schluchzten nicht und die letzte Zeit gingen sie nicht mehr zu ihm, denn er war schon von ihnen gegangen, sondern zu einer Erinnerung an ihn – zu seiner Leiche. Ihre Gefühle waren so stark, daß die äußerliche schreckliche Seite des Todes nicht auf sie einwirkte und sie nicht für nötig fanden, ihren Kummer zu bekämpfen. Sie weinten nicht und sprachen niemals unter sich von ihm, sie wußten, daß sie mit Worten ihre Gefühle nicht ausdrücken konnten. Sie sahen beide, wie er immer weiter und weiter, langsam und ruhig von ihnen ging in ein fremdes Land, und beide wußten, daß das nicht anders sein konnte.
Er beichtete und nahm das Abendmahl, und alle kamen zu ihm, um Abschied zu nehmen. Als man ihm seinen Sohn brachte, küßte er ihn und wandte sich ab, nicht, weil ihm schwer zumute war, sondern weil er vermutete, daß das alles sei, was man von ihm erwarte. Aber als man ihm sagte, er möge ihn segnen, erfüllte er diesen Wunsch und blickte sich dann um, als wollte er fragen, ob nicht noch etwas getan werden müsse. Als die letzten Zuckungen des Körpers eintraten, als ihn der Geist verließ, waren Marie und Natalie zugegen.
»Ist’s vorüber?« fragte Marie, nachdem die Leiche schon einige Minuten unbeweglich vor ihnen gelegen hatte. Natalie trat näher, blickte in die toten Augen und verschloß sie.
»Wohin ist er gegangen? Wo ist er jetzt? …«
Als die Leiche im Sarge lag, der im Zimmer stand, traten alle näher, um Abschied zu nehmen und weinten. Der kleine Nikolai schluchzte, weil ein ihm noch unerklärlicher Schmerz sein Herz zerriß. Die Gräfin und Sonja weinten aus Mitleid für Natalie und weil er nicht mehr war. Der alte Graf weinte, weil er fühlte, daß auch ihm bald jener schreckliche Schritt bevorstand.
Natalie und Fürstin Marie fanden jetzt auch Tränen, aber sie weinten nicht aus persönlichem Kummer, sondern in einer wohltuenden Rührung, welche ihre Seelen erfüllte, vor der ruhigen Majestät des Todes.
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Das bei Borodino erlegte Tier lag dort, wo es der Jäger auf seiner Flucht zurückgelassen hatte. Ob es lebte, ob es noch stark war, oder ob es sich nur verstellte, das wußte der Jäger nicht. Plötzlich aber wurde ein Stöhnen des Tieres vernehmbar.
Dieses Stöhnen des verwundeten Tieres, der französischen Armee, das seinen Untergang ahnen ließ, war die Absendung des Generals Lauriston mit Friedensvorschlägen in das Lager Kutusows. Napoleon in seiner selbstgefälligen Überzeugung, daß nur das gut sei, was ihm in den Kopf kam, schrieb an Kutusow einen Brief in unbestimmten, sinnlosen Worten, wie sie ihm eingefallen waren.
»Fürst Kutusow, ich sende Ihnen einen meiner Generaladjutanten, um mit Ihnen über viele wichtige Gegenstände zu verhandeln. Ich bitte Eure Erlaucht, an alles das zu glauben, was er Ihnen sagen wird, besonders wenn er Ihnen die Gefühle der Hochachtung und besonderen Verehrung ausdrücken wird, die ich seit langer Zeit für Sie hege. Ich flehe zu Gott, Sie unter seinen heiligen Schutz zu nehmen. Moskau, 30. Oktober 1812.
Napoleon.«
»Ich würde verflucht werden, wenn ich zuerst die Hand zu irgendeinem Übereinkommen bieten würde. Das ist der Wille unseres Volkes«, erwiderte Kutusow und verwandte, wie zuvor, alle Aufmerksamkeit darauf, um das Heer vom Angriff zurückzuhalten. In dem Monat, während Moskau geplündert wurde, und das russische Heer ruhig bei Tarutino stand, ging eine Veränderung im Verhältnis der beiderseitigen Streitkräfte vor sich, sowohl in bezug auf den Geist als auf die Zahl, und die Übermacht neigte sich auf die Seite der Russen. Obgleich die Lage des französischen Heeres und die Zahlenverhältnisse desselben den Russen unbekannt waren, zeigte sich doch sehr bald die Notwendigkeit des Angriffs in zahlreichen Anzeichen. Diese Anzeichen waren die Absendung Lauristons, der Überfluß an Proviant in Tarutino; dann die von allen Seiten einlaufenden Nachrichten über die Untätigkeit der Franzosen und die Unordnungen in ihrem Heer, sowie die Ergänzung unserer Regimenter durch Rekruten, das schöne Wetter und die lange dauernde Ruhe der russischen Soldaten, die wie gewöhnlich bei den Truppen die Ungeduld nach Taten und die Neugierde darauf, was bei den Franzosen vorging, erweckte, welche man so lange aus dem Auge verloren hatte; ferner die Kühnheit, mit der jetzt die russischen Vorposten die bei Tarutino stehenden Franzosen umschwärmten, und die Nachrichten von den letzten Siegen der Bauern und kleiner Abteilungen über die Franzosen, der Neid, der dadurch erregt wurde, und der Rachedurst, der in der Seele jedes Mannes lag, solange die Franzosen in Moskau standen, und endlich das unklare Bewußtsein dessen, daß die Stärkeverhältnisse sich jetzt geändert hatten und die Überzahl auf unserer