Dieses Vorgefühl Anna Pawlownas trog nicht. Am andern Tag wurde während des Dankgebets zum Geburtstag des Kaisers Fürst Wolkonsky aus der Kirche herausgerufen, da ein Brief vom Fürsten Kutusow an ihn eingetroffen war. Das war die Meldung Kutusows, die er am Tage der Schlacht geschrieben hatte, die Russen seien keinen Schritt zurückgewichen, die Verluste der Franzosen seien viel größer als die unsrigen, und er habe noch keine näheren Nachrichten einziehen können.
Das war wahrscheinlich ein Sieg, und sogleich wurde in der Kirche ein Dankgebet gelesen. Am ganzen Morgen herrschte in der Stadt eine freudige Stimmung, alle hielten den Sieg für vollständig, und einige sprachen schon von der Gefangennahme Napoleons und seiner Absetzung. Als aber am andern Tage keine Nachrichten vom Heer kamen, entstanden Besorgnisse, und am Abend verbreitete sich noch eine schreckliche Neuigkeit, die Gräfin Helene Besuchow war unerwartet schnell gestorben. In der großen Gesellschaft hieß es allgemein, die Gräfin sei an einem schrecklichen Anfall von Brustkrampf gestorben, aber in intimeren Zirkeln erzählte man Einzelheiten davon, wie der Leibarzt der Königin von Spanien Helene eine kleine Dosis eines Mittels verschrieben habe, um eine gewisse Wirkung hervorzubringen, und wie dann Helene bei dem Gedanken, daß der alte Graf sie beargwöhnte, und daß ihr Mann, dem sie geschrieben hatte, ihr nicht geantwortet habe, plötzlich eine sehr große Dosis des Mittels eingenommen habe und unter großen Schmerzen gestorben sei, ehe man Hilfe leisten konnte. Man erzählte auch, der Fürst Wassil und der alte Graf hätten den Italiener zur Verantwortung gezogen, aber dieser habe solche Briefe von der unglücklichen Verstorbenen vorgezeigt, daß man ihn sofort freigelassen habe.
Am dritten Tage nach der Meldung Kutusows kam in Petersburg ein Gutsbesitzer aus Moskau an, und in der ganzen Stadt verbreitete sich die Nachricht von der Übergabe Moskaus an die Franzosen. Das war entsetzlich! Wie war jetzt die Lage des Kaisers! Kutusow war ein Verräter, und Fürst Wassil sagte während der Beileidsvisiten, die er abhielt, über den einst von ihm verehrten Kutusow, man habe nichts anderes erwarten können von einem blinden, halbverrückten Greis.
»Ich wundere mich nur, wie man einem solchen Menschen das Schicksal Rußlands anvertrauen konnte!«
Am andern Tag kam auch von Rostoptschin folgende Meldung:
»Ein Adjutant des Fürsten Kutusow brachte mir einen Brief, in dem er von mir Polizeioffiziere verlangt, um die Armee durch die Stadt bis zur Straße nach Räsan zu führen. Er sagt, er gebe mit Bedauern Moskau auf. Majestät, die Tat Kutusows entscheidet das Geschick der Residenz und Ihres Kaiserreichs. Rußland wird mit Schaudern hören, daß die Stadt aufgegeben wurde, in der sich die Größe Rußlands konzentriert, wo der Staub Ihrer Vorfahren sich befindet. Ich folge der Armee nach. Ich habe sie hinausführen lassen, es bleibt mir nur noch übrig, das Schicksal meines Vaterlandes zu beweinen.«
Nach Empfang dieser Meldung sandte der Kaiser durch den Fürsten Wolkonsky folgendes Schreiben an Kutusow:
»Seit dem 20. August habe ich keine Meldung mehr von Ihnen erhalten. Inzwischen habe ich über Jaroslaw von dem Oberkommandierenden in Moskau die traurige Nachricht empfangen, daß Sie beschlossen haben, mit der Armee Moskau zu verlassen. Sie können sich selbst vorstellen, welche Wirkung diese Nachricht auf mich machte, und ich bin erstaunt über Ihr Schweigen. Ich sende mit diesem Schreiben den Generaladjutanten Wolkonsky an Sie ab, um sich bei Ihnen nach der Lage des Heeres und nach der Veranlassung dieses bedauernswerten Entschlusses zu erkundigen.«
208
Neun Tage nach der Räumung Moskaus kam in Petersburg ein Abgesandter Kutusows mit offiziellen Nachrichten an. Dieser Abgesandte war der Franzose Michaud, der nicht Russisch verstand, aber »ein Russe in der Tiefe seiner Seele« war, wie er selbst sagte. Der Kaiser empfing ihn sogleich in seinem Kabinett.
»Was für Nachrichten bringen Sie?« fragte der Kaiser. »Wahrscheinlich schlechte, Oberst.«
»Sehr schlechte, Majestät«, erwiderte Michaud.
»Hat man wirklich meine alte Stadt ohne Kampf aufgegeben?« fuhr der Kaiser plötzlich auf.
Michaud meldete ehrerbietig, wie ihm Kutusow aufgetragen hatte, daß keine andere Wahl mehr geblieben sei, als die Armee und Moskau zu verlieren oder Moskau allein, und daß er daher das letztere wählen mußte. Der Kaiser hörte schweigend zu, ohne Michaud anzusehen. »Ist der Kaiser in die Stadt einmarschiert?« fragte er.
»Ja, Majestät, und in diesem Augenblick ist Moskau in Asche verwandelt, ich verließ es in Flammen gehüllt«, entgegnete Michaud entschlossen, aber selbst entsetzt über das, was er sagte.
Der Kaiser atmete schwer und hastig, seine Unterlippe zuckte und seine schönen, blauen Augen füllten sich für einen Augenblick mit Tränen.
Doch das dauerte nur einen Augenblick. Der Kaiser richtete sich plötzlich mit finsterer Miene auf, als ob er sich selbst seine Schwachheit zum Vorwurf machen wollte.
»Ich sehe, Oberst«, sagte er mit fester Stimme, »daß die Vorsehung von uns große Opfer verlangt. Wie haben Sie die Armee verlassen? Haben Sie keine Niedergeschlagenheit bemerkt?«
Michaud fand nicht sogleich eine Antwort.
»Majestät, erlauben Sie mir, aufrichtig zu sprechen, wie ein ehrlicher Krieger?« fragte er, um Zeit zu gewinnen.
»Ich erwarte das! Verbergen Sie mir nichts, ich will durchaus die Wahrheit wissen.«
»Majestät«, erwiderte Michaud mit feinem Lächeln, »ich habe die ganze Armee ohne Ausnahme in verzweifelter Angst verlassen.«
»Wie das?« fragte der Kaiser mit strenger Miene. »Können meine Russen den Mut verlieren? Niemals!«
Das hatte Michaud nur erwartet, um sein Wortspiel anzubringen.
»Majestät«, sagte er, »sie fürchten nur eins – daß Eure Majestät in Ihrer Güte sich entschließen könnten, Frieden zu machen. Sie brennen vor Ungeduld, sich wieder zu schlagen und Eurer Majestät ihre Ergebenheit zu beweisen.«
»Ah, Sie haben mich beruhigt, Oberst«, sagte der Kaiser, Michaud freundlich auf die Schulter klopfend. »Nun kehren Sie zur Armee zurück und sagen Sie meinen Tapferen und allen, die Sie sehen, wenn ich keinen Soldaten mehr habe, werde ich mich selbst an die Spitze meiner geliebten Adligen und guten Bauern stellen und kämpfen bis zur Erschöpfung der letzten Mittel meines Reiches. Aber wenn es von der göttlichen Vorsehung bestimmt sein sollte, daß unsere Dynastie zu herrschen aufhören sollte, so werde ich meinen Bart wachsen lassen und lieber eine Kartoffel mit dem letzten meiner Bauern essen, als einen schimpflichen Frieden zu unterzeichnen.«
Der Kaiser wandte sich ab, um Michaud seine Tränen zu verbergen, denn nach einigen Augenblicken kam er mit großen Schritten wieder auf Michaud zu und drückte ihm den Arm unter dem Ellbogen. Seine Augen leuchteten in Entschlossenheit und Zorn.
»Oberst Michaud, vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe! Napoleon oder ich! Wir beide können nicht mehr nebeneinander regieren. Das habe ich schon früher erkannt.«
Michaud war in diesem feierlichen Augenblick entzückt von dem, was er hörte, wie er später sagte, und fühlte sich gedrungen, als Bevollmächtigter des russischen Volkes seine Gefühle in folgenden Ausdrücken auszusprechen: »Majestät unterschreiben in diesem Augenblick das Wohl Ihres Volkes und die Rettung Europas!«
Der Kaiser neigte den Kopf und entließ Michaud.
209
In Petersburg und in entfernteren Gouvernements beweinten Damen und Männer in Landsturmuniformen Rußland und die Residenz und sprachen von Selbstaufopferung und so weiter. Aber in der Armee, welche sich hinter Moskau zurückzog,