»Danke.«
Eliot tippte grüßend an den Hutrand und verließ den Raum.
Der Dicke erhob sich, warf einen Blick durchs Fenster auf die Gräberreihen und meinte:
»Wenn der bei seinem Tempo nicht bald da unten unterm grünen Rasen liegt, dann weiß ich es auch nicht.«
Aber Eliot Ness hatte gar keine andere Wahl: Sein Leben war ein Wettlauf mit der Zeit. Das Gangstertum in Chicago hatte so weit überhand genommen, daß die Bevölkerung schon eine Eingabe beim Senat gemacht und um militärischen Schutz gebeten hatte. Die Capone-Bande erschütterte die Millionenstadt immer wieder durch neue Gewalttaten; die Borgast-Bande, die im Südwesten der Stadt irgendwo ihr Nest hatte, tyrannisierte die Bürger an allen Ecken und Enden; und die zahllosen anderen Gangs machten es nahezu unmöglich, ohne Lebensgefahr abends in der Stadt spazierenzugehen.
Die Bürger können nicht einmal mehr Luft schnappen nach ihrem harten Arbeitstag, hatte Matherley der interessierten Menschheit im übrigen Amerika mitgeteilt. Und die große Chicago News wurde in ganz Amerika gelesen.
Chicago stöhnt unter dem Druck des Gangstertums. Die Polizei ist machtlos. Der von Washington vor Jahresfrist herbeizitierte Wunderknabe Eliot Ness hat sein Pulver höchstwahrscheinlich auch schon verschossen…
Dies und anderes mehr lastete auf dem jungen G-man wie Zentnergewichte. Es war pure Gemeinheit, was der populäre Zeitungsmann drüben in seinem Wolkenkratzer an Gift gegen ihn ausspie. Aber Tatsache blieb, daß das Gangstertum auf dem besten Weg war, die Riesenstadt regelrecht zu ersticken. Die Polizei war nahezu machtlos, und die einzigen Kerben, die in die Betonmauer der Unterwelt geschlagen worden waren, gingen auf das Konto des FBI-Agenten Eliot Ness. Er hatte im vergangenen November jenen unheimlichen Mann zur Strecke gebracht, der als Nebelmörder durch die Stadt geisterte und eine Reihe von Frauen umgebracht hatte. Er hatte den Aufschlitzer zur Strecke gebracht und den Mut gehabt, sich als erster Polizei-Offizier gegen eine ganze Gang zu stellen, als er den berüchtigten »Boß« Drenkhan zu Fall brachte. Er hatte den Mörder der Mary Tissot gefunden und in einer atemberaubenden Jagd den Hinker vom Sherman Park gestellt. Auch Barry Keaton, ein brutaler Gangster, der am hellichten Tag auf der Michigan Avenue einen skurpellosen Bankraub durchgeführt hatte, war von ihm zur Strecke gebracht worden. Die Reihe der Verbrechen, die Eliot Ness während der verhältnismäßig kurzen Zeit, in der er hier in Chicago wirkte, aufgeklärt hatte, war in Anbetracht des Gegengewichts der Unterwelt geradezu sagenhaft. Aber sie waren bereits vergessen, die großen Kämpfe und Erfolge des Norwegers. Der letzte lag ja auch schon Wochen zurück. Eine endlose Zeit für die sich überschlagenden Ereignisse in der pulsierenden Millionenstadt.
Matherley selbst, der Ness-Gegner, hatte für Eliot Ness den Namen MR. CHICAGO geprägt; es sollte ein Spottname sein, aber die Unterwelt hatte diesen Namen sofort aufgegriffen. Er sollte dem FBI-Mann bis zu seinem Tod anhaften.
Es schienen nur kleine Erfolge zu sein, die da von der FBI-Staffel unter Eliot Ness erzielt wurden. Und die Menschen vergaßen, daß diese Erfolge nicht einem Zufall und nicht den zweiunddreißig FBI-Beamten und ihren siebzig Helfern zugeschrieben werden mußten, sondern daß sie allein dem Genie des einzigartigen Kriminalisten Eliot Ness zu verdanken waren. Die Leute am Oakwoods Cemetery wußten es. Und Rufus Matherley mußte es auch wissen. Nichtsdestotrotz hämmerte er unbeirrt auf seiner Riesentrommel weiter seine Gehässigkeiten in die große Stadt und mehrte damit nur die Unruhe der Bevölkerung, statt sie zu mildern. Was er damit erreichen wollte, ist niemals jemandem klar geworden. Alfonso Capone übte sich in dieser Sache weiter in vornehmer Zurückhaltung. Matherley schimpfte auf Ness, während die Gewalttagen des Syndikatchefs ungesühnt blieben. Der Norweger rückte den Dillingers auf den Pelz, was schwer genug war, aber die größte Gefahr in der Stadt breitete sich immer mehr aus. Das
Netzwerk des Al Capone war beeindruckend. Doch darüber berichtete Matherley nicht.
*
Als Eliot Ness vor der Doppeletage des chemischen Labors von Dr. Hyde & Company stand, fragte ihn eine bebrillte, sommersprossige Frau, wen er zu sprechen wünschte.
»Miß Dillinger, wenn es geht.«
»Miß Dillinger ist schon da. Sie haben Glück. Die Herrschaften im Labor fangen meist erst gegen neun Uhr an.«
Sie führte ihn in das Sprechzimmer, das mit hochmodernen Möbeln ausgestattet war und zu der großen Aufmachung vorn in der Halle paßte.
Obgleich ein halbes Dutzend Sessel einladend im Halbkreis um einen gewaltigen, nur kniehohen Tisch herum standen, blieb Eliot stehen. Sein Auge haftete auf der mahagonifarbenen Tür, durch die die Erwartete hereinkommen mußte.
Statt dessen hörte er plötzlich seitlich hinter sich ein Geräusch, wandte sich um und sah eine kleine, unscheinbare Tür, die von einem Vorhang so raffiniert verdeckt war, daß sie wie ein Schrank wirkte, aufgehen.
Ruth Dillinger stand in ihrem Rahmen, hielt den Türgriff einen Moment in ihrer Hand und blickte den Mann aus großen, fragenden Augen an. Sie trug einen weißen Kittel in der Form der Ärztekittel, mit Stehbörtchen, silbernen Knöpfen und leicht militärischem Schnitt. Sie zog die Tür hinter sich zu und trat näher.
»Mr. Ness…? Ach ja, ich war schon drüben in Ihrer Dienststelle. Ich wollte Ihnen sagen, daß noch ein Verwandter von mir in der Stadt lebt. Er ist Drogist.«
»Vielen Dank. Wir hatten ihn bereits erfaßt. Entschuldigen Sie, Miß Dillinger, daß ich Sie schon wieder stören muß. Aber ich möchte Sie etwas fragen.«
»Ja, bitte?«
Er zog die Fotografie aus dem Leichenschauhaus aus der Tasche, hielt sie ihr aber noch nicht hin, als er sagte:
»Es ist das Foto eines Toten, das heute morgen im Leichenschauhaus gemacht wurde.«
»Ja?«
Er zeigte ihr die Aufnahme.
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, ich kenne den Mann nicht.«
»Ist es möglich, daß es Ihr Vetter Frank ist?«
»Frank?« Sie blickte überrascht auf. Zuweilen erscheint einem ein Frauengesicht in der Dunkelheit oder zumindest bei diffuser Beleuchtung besonders reizvoll, verliert dann aber bei Tage enorm; das Gesicht der Ruth Dillinger aber schien im Tageslicht noch zu gewinnen. Ihre Iris war von einem so intensiv leuchtenden Blau, wie man es nur ganz selten sah.
»Ich weiß nicht, wie Frank heute aussieht. Ich habe ihn ja schon lange nicht mehr gesehen, wie ich Ihnen gestern schon sagte. Aber ich glaube nicht, daß es dieser Mann ist.«
Und dann sagte sie einen Satz, den er nie mehr vergessen sollte: »Die Dillingers haben im übrigen alle schwarzes Haar.«
»Es hätte ja sein können.«
»Wieso, ist etwas mit Frank? Sie haben ihn doch um Himmels willen nicht im Verdacht?«
»Er ist in der vergangenen Nacht nicht nach Hause gekommen.«
»Das will doch nichts besagen.«
»Durchaus nicht. Immerhin ist es die Pflicht der Polizei, wachsam zu sein.«
»Da ist mir übrigens noch etwas eingefallen«, sagte sie. »Mein Vetter Joseph, Sie erinnern sich, Joseph Scarepa, arbeitet, glaube ich, in einer Schokoladenfabrik. Tante Lou, die ich ja gestern auch erwähnte«, fügte sie mit einem Lächeln hinzu, »sagte es, als ich sie auf dem Waldfriedhof traf.«
»Sie gehen häufig auf den Waldfriedhof, nicht wahr?«
Eine leichte Röte zog über ihre Wangen – und jetzt fiel ihm etwas auf: Ihre Haut hatte eine seltsam gelbliche Tönung. Er sollte später feststellen, daß auch dies – wie das schwarze, starke Haar – eine Sippeneigentümlichkeit der Dillingers war.
»Ja, ich besuche ab und zu das Grab meiner Eltern.«
»Die Frage hatte auch nichts auf sich.«
»Oder