Er wunderte sich selbst, daß es immerhin vierzehn Personen waren. Davon waren, wie sich rasch herausstellte, bereits drei gestorben. Also blieben noch elf übrig. Die Kriminalbeamten vom Oakwoods Cemetery schwärmten sofort aus, um diese Leute unter die Lupe zu nehmen.
Da war ein alter Eisenbahnarbeiter, der die Zweiundachtzig schon überschritten hatte. Er kam wohl kaum in Frage. Eine Frau war zweiundsiebzig und hatte draußen vor der Stadt eine kleine Hühnerfarm; eine weitere Frau war hoch in den Sechzigen und arbeitete als Näherin; und noch eine Frau war Ende der fünfzig und arbeitete in einem Krankenhaus. Dann war da ein Mann, der ebenfalls die Sechzig schon erheblich überschritten hatte und in einer Drogerie arbeitete. Er hieß Jacob Dillinger und war seit einigen Tagen mit einer Jagdgesellschaft in Colorado. Eliot Ness ließ das überprüfen; es wurde festgestellt, daß es stimmte. Also auch er kam nicht in Frage. Fünf von den vierzehn waren also überprüft. Cassedy hatte ein Zwillingspaar entdeckt, ein Prächen, das jedoch auch schon spät in den Fünfzigern war und für den Mord wohl kaum in Frage kam. Sieben blieben jetzt noch übrig.
Joseph Lock fand einen jungen Mann von neunzehn Jahren, der als Dreher am Nordstadtrand arbeitete und ein hieb- und stichfestes Alibi hatte.
Nur noch sechs Leute.
Cassedy fand einen fünfunddreißigährigen Mann, der in einer Bäckerei arbeitete, und dem der linke Arm fehlte. Er kam als Mordschütze wohl auch nicht in Frage. Außerdem hatte er ein Alibi.
Nur noch sechs Leute.
Einer der letzten Dillingers, dessen Wohnung aufgesucht wurde, war der Vertreter Frank Dillinger in Stickney. FBI-Inspektor O’Connor war mehrmals an seiner verschlossenen Wohnung und gab die Nachricht an den Oakwoods Cemetery durch.
Ahnte der junge Daniel O’Connor, einer der Leute, die zum engsten Mitarbeiterstab Eliot Ness’ gehörten, daß er hier an der Schwelle des Mörders stand?
Der Chef-Inspektor, der selbst mehrere der vierzehn Dillingers aufgesucht hatte, verabschiedete sich gegen halb acht am Abend von seinem Vertreter Cassedy und fuhr nach Blue Island hinunter, das am Südrand von Chicago lag.
Da, wo die kleine Prairie Street die breite Western Avenue kreuzte, lag an der Ecke ein riesiges Wohngebäude, in dem ein R. Dillinger gemeldet war.
Der G-man fand unten bei den Namensschildchen den Namen auch und stieg neun Treppen hinauf, stand dann vor den vier Wohnungstüren auf dieser Etage und fand an der letzten den Namen Dillinger.
Es war ein sauberes, gepflegtes Haus, und die Leute, die hier wohnten, mußten sicherlich einen hohen Mietzins für ihre Behausungen zahlen. Das Wohnen in Blue Island war ohnehin nicht billig. Es gehörte zu den gehobenen Wohnvierteln Chicagos.
Eliot drückte auf die Glocke und wartete. Aber es geschah nichts. Nach einigen Minuten versuchte er es noch einmal. Wieder ohne Erfolg.
Er ging ein Stockwerk höher, setzte sich da auf die Fensterbank und blickte über einen quadratischen Hof und
die niedrigeren Dächern bis zu den Straßenzügen von Dixmoor hinüber. Der Calumet kreuzte dieses Gebiet, und weiter unten zog der Calumetslough seine Schlingen durch die Straßen von?Dixmoor. Wieder war er in gefährlichem Einsatz, der ihn nur von Al Capone ablenkte. So ging es nicht mehr lange weiter in dieser merkwürdigen Stadt. Chicago war wie gemacht für den großen Gangsterkönig Alfonso Capone. Niemand war da, um ihn zu stellen und dingfest zu machen. Eliot Ness wußte, daß ihm die Mittel fehlten, um den charismatischen Verbrecher zur Strecke zu bringen.
Es war dunkel geworden. Immer wieder surrten die beiden Aufzüge des großen Hauses auf und nieder. Auch auf der neunten Etage stiegen mehrfach Leute aus. Aber niemand öffnete die Tür, an der das Schild Dillinger war.
Dann hörte er auf einmal einen raschen Schritt auf der Treppe, den er von Etage zu Etage verfolgen konnte. Es war wenige Minuten vor neun.
Der Schritt verstummte auf der
neunten Etage. Eliot schob sich aus der Fensternische, trat auf Zehenspitzen an die Ecke des verglasten und mit einer Eisenkonstruktion umgebenen Aufzugskasten und blickte die Treppe hinunter.
Im schwaren Licht der Flurbeleuchtung konnte er eine Frau erkennen, die vor der Tür mit dem Schild Dillinger stehen geblieben war.
Sie war groß, schlank, trug einen hellen Mantel im englischen Schnitt, Schuhe mit flachen Absätzen, und um ihr dunkles Haar hatte sie ein Kopftuch gebunden. Sie schob den Schlüssel ins Sicherheitsschloß, öffnete die Tür und trat ein.
Nanu? Sollte Mr. R. Dillinger eine Frau sein?
Am Ende war es die Ehefrau. Aber hier war nur ein Dillinger gemeldet.
Der Norweger ließ ihr noch etwas Zeit, und nach fünf Minuten stand er dann vor der Tür und klingelte.
Es wurde augenblicklich geöffnet.
Der Chef-Inspektor hatte sich im Laufe der Zeit daran gewöhnt, bei seinen zahllosen Gängen an den Haustüren keine Überraschung mehr zu zeigen. Zu vielgestaltig waren die Menschentypen gewesen, die ihm da begegnet waren. Junge, Alte, Hübsche, Häßliche – Menschen aller Gattungen. Zumeist aber war es das Elend, an dessen Tür er klopfen mußte. Nein, es gab nichts mehr, das ihn überraschen konnte. Er hatte oben in Cicero und auch in Evergreen Park sowie in Hickory Hills hübsche Frauen getroffen – aber der Anblick der Frau, die jetzt vor ihm stand, verschlug ihm den Atem.
Sie mochte etwa Mitte der Zwanzig sein, war vielleicht 1,70 groß, hatte eine zauberhafte Figur und ein Gesichtsoval, das von einem griechischen Bildhauer gemeißelt worden sein könnte. Beherrschend groß standen tiefblaue, langbewimperte Augen in diesem Antlitz und überschatteten alles andere darin. Erst nachdem man sich über diese Augen beruhigt hatte – sattsehen konnte man sich gar nicht an ihnen –, fiel die wundervoll geformte Nase auf und darunter ein Mund, der vollendeter in einem Frauengesicht nicht geformt sein konnte. Nicht eine Nuance in diesem Antlitz war fehlgezeichnet, nicht ein Millimeter zu viel oder zu wenig. Lackschwarzes Haar fiel in glatten, offenen Locken fast bis zu den Schultern hinunter. Die Stirn war leicht gewölbt, glatt und klar.
Niemals zuvor hatte Eliot Ness eine so blendendschöne Frau gesehen.
Hübsch konnte man sie nicht mehr nennen. Sie war ganz einfach eine Schönheit. Ihr schwarzer Pullover lag eng um ihren wohlgeformten Oberkörper und ließ alles, was es da zu sehen gab, deutlich erkennen. Der helle Rock, der sich um ihre Hüften spannte, hatte ein dezentes Karomuster.
»Entschuldigen Sie, Madam«, brachte der Inspektor mit leicht belegter Stimme hervor, »daß ich so spät noch störe, mein Name ist Ness.« Er zog seinen Ausweis und fügte fast wie entschuldigend hinzu: »Ich bin von der Polizei.«
Da öffneten sich die rosafarbenen Lippen, und die Zähne, die dahinter zum Vorschein kamen, waren weiß und sahen so aus, als müßte sie der beste Zahnarzt von Chicago gemacht haben. Aber sie waren echt, einer wie der andere.
»Ja…« Ihre Stimme hatte einen rauchdunklen Klang und harmonierte hundertprozentig mit ihrer Erscheinung; sie hatte etwas leise Vibrierendes an sich, das dem Mann bis unter die Haut drang.
»Es tut mir wirklich leid, daß ich Sie so spät stören muß, Madam, aber…«
»Kommen Sie bitte herein«, sagte sie.
Lieber Himmel, welch eine Frau! Und welch eine Stimme. Du wirst nicht so verrückt sein, Eliot, und ihre Einladung annehmen.
War es denn überhaupt eine Einladung? Unsinn, er hatte hier eine Erkundigung einzuziehen, nichs weiter. Kühl bleiben, bis ans Herz, das war die Devise eines FBI-Mannes in jeder Situation.
Zum Teufel, daß es gegen solche Situationen, gegen solchen Anblick keine Abwehr gab, keine Maßnahme, die einen