»Aber der da, dieser verdammte Gnom, der hat eine Frau umgebracht! Ich kann das gar nicht fassen. Das darf doch nicht wahr sein!«
Ric hatte den Revolver in der Hosentasche verschwinden lassen, kam auf Joe zu und schlug ihm plötzlich mit beiden Händen mehrmals hart ins Gesicht. Die Ohrfeigen warfen Joes Schädel hin und her. Er ballte die Fäuste, sprang nach vorn, wollte sich auf Ric stürzen, der aber wich durch einen Sidestep aus und riß dabei einen linken Haken nach vorn, der genauf die die Herzspitze des an ihm vorbeistürmenden Mannes traf.
Schwer benommen sackte Joe auf die Sessellehne nieder, hing keuchend daran, richtete sich dann japsend auf und wurde von Ric in den Sessel hineingestoßen.
»So, ich denke, jetzt ist alles klar.«
Joe fuhr sich durch sein schwarzes Haar, schüttelte sich wie ein regennasser Hund und blickte Ric plinkernd an.
»Also, wenn du mir jetzt sagen würdest, ich wäre besoffen, dann wäre es mir tausendmal lieber, Richard.«
»Du bist nicht besoffen, du bist nur noch nicht ganz klar, wie mir scheint.«
»Es ist also tatsächlich wahr, Frank – er hat sie erschossen?«
»Ja, es ist wahr.«
»Aus dem fahrenden Wagen mit dem Revolver? Auf offener Straße? Vor dem Laden von Eliot Ness…!«
»Ja, auf offener Straße, vor dem Laden von Eliot Ness. Das ist etwas, was niemals vergessen werden wird, Joseph Scapera, und ich glaube, daß du das niemals fertigbringen würdest.«
Joe schüttelte den Kopf.
»Nein, allerdings nicht. Ich wüßte auch nicht, weshalb.«
Ric ging zum Fenster und blickte wieder auf die Straße hinunter. Franks Augen waren ihm gefolgt. Weshalb sagte er nichts zu ihm? Weshalb machte er ihm keine Vorwürfe?
Richard Dillinger konnte dem Vetter keine Vorwürfe machen. Hatte Frank ihm doch eine Aufgabe abgenommen. Die Frau war also tatsächlich gefährlich für ihn geworden. Sie war auf dem Weg zum?FBI gewesen. Was hatte sie Eliot Ness schon am Telefon gesagt? Was wußte der gefürchtete G-man jetzt bereits?
Ric wandte sich um, ging an Joe und Frank vorbei, nahm Hut und Mantel von der Garderobe und sagte schnarrend:
»Wir müssen weg.«
»Was soll das heißen?« krächzte Frank.
»Das soll heißen, daß du in einer Minute das Wichtigste, was du brauchst, zusammenpackst, und daß du mitkommst.«
»Wohin?«
»Zunächst mal zu Joe.«
»Zu mir?« stotterte der.
»Ja, zu dir!« herrschte Ric ihn an.
Joe hob die Schultern und ließ sie apathisch wieder fallen.
»Na, meinetwegen, als wenn ich was dagegen hätte. Wegen mir könnt ihr monatelang zu mir kommen, wenn es euch da etwa gefällt…«
Nein, in dem »Blinddarm«, wie Scarepa seine merkwürdige Wohnung selbst nannte, konnte es einem nicht gefallen. Und dennoch sollte es das erste Quartier der Dillinger-Gang werden.
Die Wohnung Joseph Scarepas lag in dem Dachgeschoß eines Wolkenkratzers hinter einer Tür, die in einem dunklen Gang lag, von dem sonst nur die Türen zu den Kammern mit den Lichtanschlüssen, der Wasseruhr und dem Schlüssel zum Elevator abgingen. Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, daß die düstere Tür, die in der Elevatorkammer lag, zu einem Gang führte, der noch fünf richtige, wenn auch schrägwandige Zimmer hatte. Es war also ein regelrechter Eingang zu einer Wohnung. Joe hatte sie vor zwei Jahren durch Zufall bekommen, weil der Mann, der sie bis zu seinem Tod bewohnte, auch bei ihm in der Schokoladenfabrk gearbeitet hatte. Niemand kümmerte sich um diesen Blinddarm, niemand kassierte Miete; einen Hausmeister gab es in dem Bau nicht, und es hatte tatsächlich den Anschein, daß die Menschen, die überhaupt jemals nach oben in die Elevatorkammer kamen, den »Blinddarm« entweder vergessen hatten oder gar nicht kannten.
So scheußlich Ric und Frank das neue Quartier jetzt vorkam, so wichtig sollte es doch für die Dillingers werden.
*
Richard Dillinger hatte zu sehr auf Suzan Tunneys Angst gebaut. Niemals hätte er ihr den Weg, den sie da hatte gehen wollen, zugetraut. Aber der unerfahrene Mann aus dem Westen wußte nicht, daß mit der erzwungenen Nacht zu dritt etwas in der Frau zerbrochen war; daß es gerade das gewesen war, was sie auf den Weg zur Polizei gebracht hatte.
Joe Scarepa war direkt froh, daß die beiden Verwandten zu ihm ziehen wollten. Er breitete die Arme aus und erklärte theatralisch, nachdem sie ein paar Konservendosen mit Fisch und ein halbes Brot verzehrt sowie eine Kanne Tee geschlürft hatten:
»Na also, Familie ist eben Familie! Ich hoffe, daß ihr jetzt immer hierbleiben werdet – und jeder trägt ein Drittel der Miete!«
Sie lachten dröhnend los, denn Miete gab’s ja keine zu bezahlen.
Frank blickte Richard an und sagte leise wie zu sich selbst:
»Ric ist eine Eins. Er hat mir diese Frau überlassen. Ich werde es niemals vergessen. Es war die größte Nacht meines Lebens. Er war sicher selbst scharf auf sie und hat meinetwegen verzichtet.«
*
Es war Inspektor Joseph Lock vom FBI, der den abgestellten Wagen im Hof vor der 73. Straße eine Dreiviertelstunde nach dem Überfall entdeckte. Lock, einer der besten Leute von Eliot Ness, ließ den Wagen sofort zum Oakwoods Cemetery bringen und untersuchen. Die Fingerabdruckspezialisten fanden so viel Material, daß man ein ganzes Album damit füllen könnte, meinte Marcus Green, der Chef-Spezialist vom FBI.
Nur eine halbe Stunde dauerte es, bis Eliot Ness wußte, wem der Wagen gehörte.
Er fuhr selbst zu dem Auto-Verleih hinaus und fragte nach dem Mann, der den Wagen geliehen hatte.
Der Verleiher war ein Mensch, der sich schon den Siebzigern näherte, zudem schlechte Augen und eine Aversion gegen die Polizei hatte.
»Ich kann mich da gar nicht erinnern, Mister. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen den Mann beschreiben soll.«
»Wir wollen es kurz machen, Mister«, erklärte der FBI-Agent. »Der Mann hat einen Mord begangen.«
»Was geht das mich an. Doch wohl nicht mit meinem Wagen, he?«
»Doch, die Schüsse sind aus dem offenen rechten Vorderfenster Ihres Wagens abgegeben worden.«
»All right, ich habe gesagt, was ich sagen konnte. Es war ein Mann in den Dreißigern, und mehr weiß ich nicht.«
»Er muß doch einen Namen angegeben haben.«
»Das hat er natürlich. Aber ganz sicher ist es nicht sein eigener Name.«
»Wie hat er sich genannt?«
»Dillinger.«
»Vorname?«
»Hat er nicht.«
»Was soll das heißen?«
»Er hat eben nur mit Dillinger unterschrieben. Sie können sich denken, daß ein Mann, der nur mit Dillinger unterschreibt, erstens nicht Dillinger heißt und zweitens höchstwahrscheinlich auch seinen Vornamen nicht nennen will.«
Das war einleuchtend.
Eliot versuchte es dennoch eine weitere halbe Stunde, aber der Alte konnte sich an nichts weiter erinnern. Das Fahrzeug war vorher für den ganzen Tag bezahlt worden, und als er erfuhr, daß er den Wagen wieder zurückbekommen würde, interessierte den Verleiher alles Weitere nicht mehr.
Pinkas Cassedy, der den Chef-Inspektor begleitet hatte, knurrte, als sie den Garagenhof verließen.
»Der Kerl hat das Gemüt eines Fleischerhundes. In England würde man ihm die Lizenz für seinen Laden glatt entziehen.