»Mensch, Franky, ist das eine Überraschung!« Das Lachen erstarb ihm aber sofort, als er Franks blasses, ernstes Gesicht sah, und deshalb fragte er einen Ton verhaltener: »Ist was passiert?«
»Nein, nein, ich wollte dich nur mal begrüßen. Das hier ist mein Vetter Ric aus St. Louis.«
»Auch ein Dillinger?« forschte Joe.
»Ja, auch ein Dillinger«, entgegnete Ric und reichte dem anderen die Hand.
»Ric ist seit gestern zu Besuch bei mir.«
Da rieb sich Joe die Hände und erklärte:
»Wißt ihr was, ich mache Feierabend; ich hätte sowieso nur noch zwei Stunden von meiner Spätschicht zu arbeiten gehabt, und dann gehen wir drei los.«
Als Frank das Wort »gehen« hörte, wurde ihm schon mulmig. Ric blickte den entfernten Verwandten von der Seite an, nickte dann aber doch.
»Meinetwegen.«
»Ich lade euch zuerst mal zu einem Drink ein. Hier in der Nähe gibt’s ein gutes deutsches Bier…«
Rics Kopf flog herum.
»Wie heißt der Wirt?«
»Cornfield, Ed Cornfield, soviel ich weiß. Allerdings ist er kein richtiger Deutscher…«
»Wo ist die Kneipe?«
»Es ist eigentlich keine Kneipe, Ric, weißt du, es ist mehr ein Restaurant. Man kann da essen.«
»Eisbein zum Beispiel?«
»Ja, Eisbein auch.«
»Wo ist der Laden?«
»Gleich hier um die Ecke in der 109th…«
Ric rannte los. Nach Atem ringend, erreichte er die zu ebener Erde liegende Schenke, schob sich durch die Drehtür und sah einen trotz blankgescheuerter, ungedeckter Tische elegant wirkenden Restaurationsraum vor sich. Die Tische waren fast alle besetzt. Er sah, daß das Restaurant winkelförmig angelegt war, hatte drei Stufen zu dem höher gelegenen Teil getan, als er plötzlich stehen blieb.
Hinten in der Ecke saß sie!
Suzan Tunney saß allein an einem kleinen Tisch, hatte die Hände ineinander gelegt und blickte auf die Speisekarte, die der Kellner vor sie hingelegt hatte. Offenbar war sie auch gerade erst angekommen. Sie trug einen eleganten blauen Frühjahrshut und ein blaues Kostüm.
Der Mann an der Treppe stieß die Luft geräuschvoll aus und hatte dann ein zynisches Lächeln um die Mundwinkel stehen.
Langsam ging Richard Dillinger vorwärts.
Als sein Schatten auf den Tisch der Frau fiel, hob sie den Kopf und glaubte vor Schreck sterben zu müssen.
Da stand der Mann vor ihr, der sie in der Bahn überfallen und beraubt hatte! Aus vor Entsetzen geweiteten Augen starrte sie ihn an wie ein Gespenst.
Groß, schlank und gefährlich stand der Mann aus St. Louis an der anderen Tischseite und hatte sie mit seinem Schlangenblick förmlich hypnotisiert.
»Gestatten Sie?« fragte er, zog sich einen Stuhl zurück und nahm ihr gegenüber Platz.
Als sie endlich den ersten Schreck verdaut hatte und aufspringen wollte, spannte sich seine haarige Rechte über ihre beiden Hände.
»Bleiben Sie sitzen!«
Sie hatte den Mund offenstehen, und ihre Unterlippe zitterte. Immer noch stand eisiges Entsetzen in ihren Augen. Sie war gar nicht fähig, einen Schrei auszustoßen.
»Ich habe Ihnen Grüße zu bestellen.«
»Daß Sie es wagen!« brach es endlich heiser aus ihrer Kehle. »Ich werde die Polizei…«
»Grüße von Pawell«, zischte er ihr entgegen.
Wie von einem Schlag getroffen, fuhr sie zurück.
»Von Pawell?« stammelte sie.
»Ja, von Ihrem lieben Freund Pawell.«
Sie begriff nichts mehr. Alles wollte sich vor ihren Augen drehen. Das ganze Restaurant und das gefährliche Gesicht des Mannes vor ihr.
War sie verrückt geworden? War das vielleicht gar nicht der Mann, der sie in der Bahn überfallen hatte? Es konnte doch nicht der mindeste Zweifel daran bestehen, daß er es war! Es war sein Gesicht, seine Augen, die hageren, kantigen, vortretenden Backenknochen, die scharfe Nase und das eckige, stark ausgebildete Kinn, die schmale Stirn und das strähnige schwarze Haar. Vor allem waren es seine schiefergrauen Augen, die sie bis in ihre letzte Stunde nicht vergessen würde.
Aber was sprach er von Pawell, von dem Geliebten?
Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Die Tasche! Er hatte ja ihre Tasche geraubt, und in der Tasche war Pawells Brief gewesen.
Sie riß ihre Hände unter den seinen los, lehnte sich zurück und preßte bebend hervor:
»Was wollen Sie?«
Dillinger griff in die Tasche, nahm den Brief heraus, faltete ihn auseinander und hielt ihn ihr mit spitzen Fingern hin.
Sie wollte nach vorn schnellen und ihn ihm aus der Hand reißen. Aber schon hatte er ihn zusammengefaltet und in die Tasche zurückgeschoben.
Es war gleich sechs Uhr. Jeden Augenblick mußte Pawell kommen! Suzans Blick glitt über die Schulter des Mannes. Aber von dem Erwarteten war noch nichts zu sehen.
Dafür waren hinten an der Treppe zwei Männer aufgetaucht, die zu ihrem Tisch hinüberblickten. Frank Dillinger und Joe Scapera. Scapera stieß Frank,
der mit großen Augen dastand, in die Seite.
»Mensch, ist das ein Hengst. Ein paar Stunden erst in Chicago, und schon ein Girl an der Hand. Laß ich mir gefallen; die Puppe. Wirklich dufte. Vielleicht kann er sie mir mal einen Sonntag überlassen.« Er lachte dröhnend und ließ sich mit Frank an einem der Nachbartische nieder.
Ric aber hatte sich erhoben.
»Kommen Sie!«
Er hatte es halblaut gesagt, aber seine Stimme duldete keinen Widerspruch.
Die Frau erhob sich unwillkürlich, setzte sich dann aber sofort wieder nieder.
»Was fällt Ihnen ein!« zischte sie. »Sie sind ein Verbrecher. Ich werde die Polizei rufen…«
»Sie können sicher sein, daß ich vorher Zeit finde, dem alten, stiernackigen Kerl mit dem blauen Chevrolet eine freundliche Nachricht zukommen zu lassen.«
Suzan war sofort wieder aufgestanden. Ihre Knie zitterten, ihr ganzer Körper vibrierte, ihr Atem flog. Sie griff nach ihrer Tasche und ging vor dem Mann her aus dem Lokal. Als sie auf der Straße waren, griff Ric nach ihrem linken Handgelenk, zerrte sie über den Fahrdamm und schob sie zwischen den Menschen hindurch der nächsten Straßenecke zu.
Da machte sie sich von ihm los.
»Was fällt Ihnen ein!«
»Nur sanft, mein Engelchen. Auf die Weise wirst du nichts bei mir.« Ric stand dicht vor ihr und senkte seinen stechenden Blick in die flackernden Augen der Frau.
»Was wollen Sie? Geld oder…« Jäh versagte ihr die Stimme. Sie wußte plötzlich, daß ihre Frage sinnlos war. Er wollte beides, der Mann der da vor ihr stand und sie mit seinen kalten Augen fixierte.
Wieder nahm er sie an der Hand, zog sie über die Straße hinüber und stand schließlich mit ihr vor einem der Parkwege des Greenwood Parks. Als er den Arm um ihre Schulter legte, riß sie sich von ihm los, wich zwei Schritte zurück und giftete ihn an:
»Sie