Das Mädchen warf einen Blick auf die Karte und rief dann überrascht:
»Ness? Das – das kann doch nur Eliot Ness sein!«
»Eliot Ness?« Es war Suzan plötzlich so, als hätte sie den Namen schon gehört.
»Aber, Mrs. Tunney, das ist der berühmte Eliot Ness vom FBI. Er ist am Oakwoods Cemetery. Ich weiß es ganz genau. Es steht ja ständig in der Zeitung. Er hat doch erst vor zwei Monaten die Billok-Bande auffliegen lassen.«
»Am Oakwoods Cemetery also.«
Eine Stunde später verließ Suzan Tunney das Haus mit dem großen weißen Cabrio, das ihr Mann ihr im vergangenen Winter geschenkt hatte. Es war ein prächtiges, kostspieliges Automobil von der Marke Cadillac. Sie fuhr in die Stadt zurück und hinüber zur Riverside, wo sie in der 71. Straße vor dem grauroten Gebäude der Sonderabteilung des FBI anhielt.
In dem Augenblick, in dem sie den Wagen auf der anderen Straßenseite verließ, peitschten aus einer langsam vorüberfahrenden Limousine mehrere Schüsse, die sie auf der Stelle niederstreckten.
Durch Hals und Brust getroffen, brach Suzan Tunney auf der Stelle zusammen und stürzte in den Rinnstein.
Die Menschen flüchteten bei den Schüssen, statt sich um die Frau zu kümmern, und rannten in die nächsten Häuser und Höfe.
Drüben aus dem Gebäude des FBI stürmten mehrere Männer auf die Straße. Einer hob sie auf und trug sie ins FBI-Gebäude.
Doc Hollister, der »Hausarzt«, stellte fest, daß die Frau durch den Schuß in der Kehle tödlich verletzt war. Der Tod mußte jeden Augenblick eintreten.
Der Mann, der sie über die Straße getragen hatte, war zufällig Pinkas Cassedy gewesen, Eliot Ness’ Stellvertreter. Der Chef-Inspektor, der vom Pförtner sofort informiert worden war, kam hinunter. Als er in die Räume des Arztes trat und die sterbende Frau auf die Bahre liegen sah, eilte er auf sie zu und beugte sich über sie.
»Sie wollten zu mir?«
Sie nickte.
»War es wegen dieses Mannes im Zug?«
Sie versuchte wieder zu nicken, aber es gelang ihr nicht.
»Sie brauchen nicht zu nicken. Wenn Sie die Augen nach meinen Fragen offenlassen, weiß ich, daß Sie sie bejahen wollen. Wenn Sie sie schließen, bedeutet es eine Verneinung. Also, der Mann ist wieder aufgetaucht?«
Ja.
»Er hat Sie bedroht?«
Wieder ließ sie die Augen offen.
»Er hat einen Grund gefunden, Sie zu erpressen?« forschte der G-man ahnungsvoll.
Ja.
»Kennen Sie seinen Namen?«
Die Sterbende schloß die Augen.
»Wissen Sie, in welcher Gegend er wohnt?«
Sie ließ die Augen offen.
»Im Süden der Stadt?«
Und dann nannte der Inspektor in fliegende Eile sämtliche Stadtteile. Als er bei dem Namen Stickney angekommen war, nickte sie.
»Sie kennen die Straße nicht?«
Sie verneinte.
»Es ist also ein großer, schlanker Mann mit dunklem, vollem Haar, hagerem Gesicht und grauen Augen?«
Sie ließ die Augen offen.
»Hat er auf Sie geschossen?«
Da schüttelte sie den Kopf.
»Und trotzdem glauben Sie, daß der Überfall mit ihm zusammenhängt?«
Wieder bejahte sie.
»Haben Sie den Mann erkannt, der auf Sie geschossen hat?«
Ja.
»War es einer der Leute, die zu dem Mann gehörten?«
Ja.
»Sind es mehrere?«
Matt hob sie drei Finger ihrer linken Hand.
»Drei Männer also, und Sie wissen von keinem den Namen.«
Sie schloß die Augen.
»Hat er in Ihrer Tasche etwas finden können, womit er Sie erpressen konnte?«
Ja.
»Einen Brief vielleicht?«
Ja.
»Ich will Sie jetzt nicht weiter quälen, Mrs. Tunney. Machen Sie sich keine Sorgen, Sie sind hier bei uns gut aufgehoben.«
Als er zurücktrat, sah er, daß ihr Kopf zur Seite fiel.
»Sie ist tot«, sagte Dr. Hollister. Er zog das weiße Laken, das er über sie gebreitet hatte, über ihren Kopf.
Ihre eheliche Untreue hatte die lebensfrohe leichtsinnige Suzan Tunney bitter bezahlen müssen.
Wenige Stunden später schrien die Zeitungsjungen der Chicago News die Schlagzeile in die Millionenstadt hinaus:
Mord vor dem FBI-Gebäude!
Junge Frau auf offener Straße von Gangstern erschossen!
Der bekannte Zeitungsmann Rufus Matherley, der zu den Leuten gehörte, die am ärgsten gegen die Nominierung des jungen Eliot Ness für den Posten des Chef-Inspektors am Oakwoods Cemetery gewettert hatten, war seit der ersten Stunde von dessen Amtsantritt der erbittertste Gegner des FBI-Agenten. Niemand hat jemals begriffen, warum der Journalist sich so gegen Eliot Ness gestellt hat. Es gibt einige Historiker, die der Ansicht sind, daß Matherley gern einen Polizeioffizier aus seinem Bekanntenkreis auf diesem Posten gesehen hätte. Aber Edgar Hoover in Washington hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht, indem er den jungen Eliot Ness mit diesem Amt betraut hatte. Matherley war zweifellos ein Journalist von hohen Graden und ein Mann, der ganz sicher die Bedeutung des »Norwegers« begriff; dennoch ist er zeitlebens sein zähester Widersacher geblieben. Die schweren Zusammenstöße, die der Inspektor in der Folgezeit mit ihm hatte, ließen beim FBI den Verdacht auftauchen, daß Matherley ein verkappter Gangster sein könnte. Es gab Zeitungsartikel von ihm, in denen er den FBI-Mann angriff, wie es ein echter Gegner wie Al Capone nicht schärfer hätte tun können. So auch in diesem Bericht. Wörtlich schrieb er jetzt:
Weit ist es in unserer Stadt gekommen. Ungestört kann man am hellichten Tag selbst vor der Tür des großmächtigen Eliot Ness Passanten niederknallen. Und nichts geschieht!
Die Gerüchte, daß sich Rufus Matherley womöglich von Alfonso Capone bezahlen ließ, sind nie wirklich verstummt. Doch hatte der gefürchtete Syndikatchef eine solche Bestechnung überhaupt nötig? Er konnte sich auf den bodenlosen Haß verlassen, mit dem Matherley gegen Eliot Ness eiferte. Er schmunzelte darüber und ließ den anderen machen. Al Capone fühlte sich unangreifbar in der Stadt, die ihm gewissermaßen zu Füßen lag.
*
Frank Dillinger war der »feinen Puppe« wie er sie bei sich nannte, heimlich gefolgt. Er hatte sich ein Taxi genommen, und nachdem er wußte, wo sie wohnte, hatte er sich bei dem nächsten Autoverleiher in Windeseile einen Wagen geliehen und darin in der Nähe des Hauses gewartet, in dem die Frau verschwunden war.
Es war eine seltsame Wandlung mit dem kleinen Frank Dillinger vor sich gegangen. Niemals zuvor hatte er eine so gutaussehende Frau gekannt, geschweige denn bei sich daheim gehabt. Ewig würde er Ric dafür dankbar sein. Kaum war sie weg, regte sich in ihm schon die Eifersucht.
Wo ging sie hin?
Mit wem traf sie sich?
Zunächst hatte er nur die Vermutung gehabt, daß sie einen anderen Mann anrufen