Dr. Metzler bemerkte seine Unruhe. »Geh nur, Robert. Ich werde mich noch ein bißchen ausruhen, und alles andere muß ich dann ohnehin allein hinter mich bringen.« Er schwieg kurz, dann fügte er leise hinzu: »Dabei kann mir niemand helfen.«
Mit einer väterlichen Geste legte Dr. Daniel ihm eine Hand auf die Schulter. »Alle, die hier arbeiten, mögen dich, Wolfgang, also bin ich sicher, daß es dir niemand schwermachen wird, wieder von vorn zu beginnen.«
Dr. Metzler seufzte. »Hoffentlich hast du recht.«
*
Karina Daniel war gerade dabei, das Frühstück an die Patienten zu verteilen, als sie ihren Vater den Flur entlangkommen sah.
»Guten Morgen, Papa«, grüßte sie mit einem strahlenden Lächeln, das Dr. Daniel immer wieder so sehr an seine viel zu früh verstorbene Frau erinnerte. »Was treibt dich denn um diese Zeit schon in die Waldsee-Klinik?«
»Ich wollte nach Erika und auch nach Wolfgang sehen.«
»Bei Erika war ich heute auch schon«, erklärte Karina. »Obwohl sie vermutlich bis zur Geburt ihres Babys liegen muß, scheint sie ausgesprochen guter Dinge zu sein.« Dann wurde sie ernst. »Und wie geht’s Wolfgang?«
»Du klingst ja ziemlich besorgt, dabei bist du es doch selbst gewesen, die ihm als erste die Leviten gelesen hat.«
»Das war auch dringend nötig. Wolfgang hatte Stefan ohne Grund ausgeschimpft und ihn vielleicht sogar noch bestraft. Das mußte ich um jeden Preis verhindern, außerdem… es hat mir schon irgendwie weh getan, ihn so verändert zu sehen. Das war nicht mehr der Wolfgang Metzler, den ich zu Hause kennengelernt hatte.«
»Und in den du dich verliebt hast«, ergänzte Dr. Daniel.
Da lächelte Karina wieder. »Deine Formulierung ist nicht ganz richtig, Papa. Du mußt in der Vergangenheitsform sprechen, nicht in der Gegenwart.«
Dr. Daniel seufzte. »Das hast du schon öfter gedacht, aber irgendwann hat dich die Liebe zu Wolfgang dann doch immer wieder eingeholt.«
»Diesmal nicht«, entgegnete Karina voller Überzeugung. »Es ist vorbei, Papa – endgültig.«
»Was macht dich diesmal so sicher?«
»Zum einen habe ich gesehen, wie Wolfgang und Erika zueinander stehen. Meine Güte, Papa, eine Liebe, wie sie diese beiden verbindet, gibt es so selten, daß es ein Verbrechen wäre, sich dazwischenzudrängen.«
Besorgt runzelte Dr. Daniel die Stirn. »Diese Argumentation gefällt mir ganz und gar nicht, Karina. Wenn du deine Liebe nur verdrängst, weil sie dir aussichtslos erscheint…«
»Nein, Papa, so ist es nun auch wieder nicht«, fiel Karina ihm ins Wort. »Ich habe nämlich noch etwas anderes begriffen. Ich war die ganze Zeit in einen Traummann verliebt – so wie ich es damals schon immer gesagt habe. Wolfgang ist in mein Leben getreten wie der Held, den man aus Romanen kennt.« Sie lächelte. »Du weißt doch, wie romantisch ich schon immer gewesen bin. Und Wolfgang… er sieht blendend aus, ist so viel älter als ich, dazu noch seine sagenhafte Ausstrahlung. Ich mußte mich ja einfach in ihn verlieben – besser gesagt, in das, was er für mich darstellte, denn als einen Menschen, der eben auch Schwächen hat wie jeder andere, habe ich ihn nie gesehen. Das konnte ich erst, als ich ihn jetzt von einer völlig anderen Seite kennenlernte. Da wußte ich plötzlich, daß es das Bild des unfehlbaren Helden, das ich innerlich von ihm gezeichnet hatte, nicht gibt. Wolfgang ist ein Mensch, und wenn er wieder so wird wie früher, dann ist er auch ein sehr liebenswerter Mensch, den ich unbedingt als guten Freund behalten möchte. Aber die Liebe zu ihm, die im Grunde nichts anderes als eine Heldenverehrung war, wird mich nie wieder gefangenhalten.«
Dr. Daniel atmete auf. »Gott sei Dank.« Impulsiv nahm er seine Tochter in den Arm. »Manchmal hatte ich schon schreckliche Angst, daß du dich von dieser unseligen Liebe niemals mehr würdest befreien können. Sie schien immer so… so endgültig zu sein.«
»Ach, Papa, ich bin mindestens genauso froh wie du, daß ich nun endlich Klarheit in meine Gefühle bringen konnte.« Sie lächelte. »Und weißt du, was das Schönste an allem ist? Ich habe in Erika eine richtige Freundin gefunden.« Dann wurde sie wieder ernst. »Was glaubst du, Papa, sie wird bestimmt ein gesundes Baby zur Welt bringen, oder?«
Dr. Daniel nickte. »Das hoffe ich doch sehr.« Er seufzte. »Eine zweite Fehlgeburt wäre so ziemlich das Schlimmste, was ihr passieren könnte – vor allem, weil sie für dieses Baby schon jetzt so vieles in Kauf genommen hat. Ich weiß von meiner langjährigen Praxistätigkeit sehr gut, wie belastend es für junge Frauen ist, den Großteil der Schwangerschaft im Bett verbringen zu müssen, noch dazu in der ständigen Angst, trotzdem eine Fehlgeburt zu erleiden. Erika hat nur das Glück, einen sehr liebevollen Mann an ihrer Seite zu haben.« Lächelnd streichelte er über Karinas langes blondes Haar. »Und dazu noch eine Freundin, die ihr immer wieder Mut macht.«
Auch Karina lächelte. »Ich will jedenfalls mein Bestes versuchen.«
*
Erika Metzler hatte die Augen geschlossen, doch sie schlief nicht. Überdeutlich fühlte sie das sanfte Pochen in ihrem Bauch. Gestern hatte sie noch gedacht, es wären ganz normale Darmgeräusche, doch inzwischen wußte sie, daß es die ersten Klopfzeichen ihres Babys waren. Niemand hatte es ihr gesagt – es war der Instinkt einer werdenden Mutter, der es sie wissen ließ. Sehr sanft streichelte sie über ihren Bauch und flüsterte dabei immer wieder: »Mein kleiner Liebling.«
Die sich öffnende Tür riß Erika aus ihrer Versunkenheit heraus. Sie öffnete die Augen, und als sie sah, wer da hereinkam, richtete sie sich auf und streckte beide Hände aus.
»Wolfi! Endlich!«
Dr. Metzler setzte sich auf die Bettkante, dann nahm er seine Frau zärtlich in die Arme und drückte sie an sich.
»Tut mir leid, daß ich jetzt erst kommen kann, aber diese beiden Giftmischer Robert und Gerrit haben mir gestern nachmittag und heute nacht je einen Cocktail verpaßt, der mich noch den ganzen Vormittag über daran gehindert hat, auch nur kurzzeitig das Bett zu verlassen.« Er lächelte seine Frau liebevoll an. »Sogar jetzt bin ich noch ein bißchen wacklig auf den Beinen, aber ich hatte solche Sehnsucht nach dir.«
Erika schmiegte sich an ihn, dann nahm sie seine Hand und legte sie auf ihren Bauch.
»Spürst du etwas, Wolfi?«
Er schüttelte den Kopf, hielt aber mitten in der Bewegung inne. »Doch, jetzt.« Er sah seine Frau an. »War das unser Baby?«
Erika nickte selig. »Seit gestern spüre ich bereits die Bewegungen. Ach, Wolfi, es ist ein wunderbares Gefühl.« Und dann stiegen ihr plötzlich Tränen in die Augen. »Ich darf dieses Baby nicht wieder verlieren.«
Tröstend streichelte Wolfgang ihr Gesicht. »Das wirst du auch nicht, Liebes. Ich bin ganz sicher, daß du ein wundervolles Kind zur Welt bringen wirst.«
Erika klammerte sich an ihn wie eine Ertrinkende. »Halt mich fest, Wolfi. Ich bin so froh, daß ich dich habe. Ohne dich… ich weiß nicht, wie ich das alles allein durchstehen würde. Es ist so bedrückend, die ganze Zeit im Bett zu liegen. Die Gedanken, die einem dabei durch den Kopf jagen, machen einen fast verrückt.«
Eine Weile herrschte Schweigen zwischen den beiden.
»Hält Robert es noch immer für bedenklich, wenn du ab und zu aufstehen würdest?« wollte Wolfgang schließlich wissen.
»Natürlich stehe ich gelegentlich mal auf, aber… ich selbst bin es ja eigentlich, die jegliches Risiko vermeiden will«, gestand Erika. »Eine erneute Fehlgeburt… noch dazu zum jetzigen Zeitpunkt… ich glaube, daran würde ich wirklich zugrunde gehen.« Dann schüttelte sie den drohenden Gedanken energisch von sich ab. »Karina kümmert sich sehr lieb um mich.« Sie lächelte. »Stell dir vor, in den vergangenen Wochen sind wir richtige Freundinnen geworden. Ich hätte nie gedacht, daß das einmal möglich sein würde.«
»Sie liebt mich nicht