Es dauerte eine Weile, bis Gabriela antwortete. »Nein, Erika, im Grunde gibt es überhaupt nichts, was mich hier hält, aber… ich kann auch nicht in meine Heimat zurück – so sehr ich es mir wünsche.«
»Deine Mutter sagte mir gegenüber etwas von Flucht. Gabi, das klingt ganz so, als wärst du in einen regelrechten Krimi verwickelt.«
»So ähnlich war es auch. Mein Ex-Verlobter hat gedroht, mich und die Klinik meines Onkels zu vernichten. Ich mußte diese Drohung ernst nehmen, also habe ich von einem Tag auf den anderen Deutschland verlassen, und ich gedenke nicht, jemals wieder dorthin zurückzukehren.«
»Und warum mußte es denn gleich Australien sein?«
Gabriela seufzte. »Ach, weißt du, Erika, das Land ist rauh – zu rauh, als daß man Zeit hätte, sich mit Erinnerungen zu quälen.«
»Bist du als Ärztin dort?« wollte Erika wissen, obwohl sie schon vermutete, daß Gabriela auch ihren Beruf aufgegeben hatte, ebenso wie ihre Heimat.
»Nein, Erika, ich arbeite auf einer Schaffarm. Es ist eine harte Arbeit, aber das ist auch gut so. Auf diese Weise habe ich keine Zeit, über Vergangenes nachzudenken.«
Erika atmete tief durch. Sie hatte das Gefühl, als müsse sie Gabriela um jeden Preis zurückholen, dabei wußte sie schon jetzt, daß es nicht einfach sein würde.
»Hör zu, Gabi, ich habe bis vor wenigen Monaten in einer Klinik in Bayern als Anästhesistin gearbeitet, doch jetzt bin ich schwanger. Das wäre an sich kein Problem, aber ich hatte bereits eine Fehlgeburt, und diesmal droht mir dasselbe Schicksal. Das heißt, daß ich vermutlich die gesamte Schwangerschaft im Bett verbringen muß.«
»Das tut mir leid«, meinte Gabriela, und Erika wußte, daß ihr Mitgefühl echt war. »Allerdings weiß ich nicht, weshalb du mir das am Telefon erzählst. Für ein Gespräch unter Freundinnen ist die Verbindung Deutschland-Australien doch ein bißchen arg teuer.«
»Es ist auch kein Gespräch unter Freundinnen, sondern eines unter Kolleginnen, Gabi. Ich möchte, daß du hierherkommst und meine Stelle übernimmst.«
»Kommt nicht in Frage«, entgegnete Gabriela ohne auch nur eine Sekunden zu überlegen. »Ich
habe dir gesagt, daß ich nicht
nach Deutschland zurückkommen kann.«
»Und warum nicht? Soweit ich es bis jetzt mitbekommen habe, betraf diese Drohung doch auch die Klinik deines Onkels. Dorthin wirst du aber nicht zurückkehren. Du kommst nach Bayern, niemand kennt dich hier, also wird dein Ex-Verlobter auch nicht erfahren, daß du wieder in Deutschland bist. Und deine Eltern werden es ihm sicher nicht erzählen.«
Gabriela seufzte. »Ich kann nicht, Erika, tut mir leid.«
»Warte, Gabi! Leg jetzt bitte nicht auf. Versprich mir, daß du es dir wenigstens überlegen wirst.« Sie wartete eine Erwiderung gar nicht ab, sondern fuhr sogleich fort: »Die Klinik liegt ganz bezaubernd an einem kristallklaren See und ein bißchen außerhalb von einem sehr idyllischen Vorgebirgsort. Wie ich vorhin schon sagte, ist es eine kleine Klinik. Hier arbeiten nur fünf Ärzte, und der Klinikdirektor ist der beste und netteste Mensch, den es auf dieser Welt gibt. Bitte, Gabriela, überleg es dir.«
»Du bist gemein«, knurrte Gabriela. »Ich sitze hier in dieser Gluthölle, in der es seit Monaten nicht mehr geregnet hat, und du erzählst mir von einem kristallklaren See. Das ist, als würdest du einem Verdurstenden ein Glas Wasser entgegenhalten, um es dann selbst zu trinken.« Sie seufzte.
»Also schön, Erika, du hast gewonnen. Ich werde es mir überlegen, aber versprechen kann ich dir noch gar nichts.«
*
Den restlichen Teil der Nacht über lag Gabriela Köster wach. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Berge, glasklares Wasser und eine kleine weiße Klinik inmitten einer zauberhaften Landschaft. Im selben Moment wußte sie, was sie zu tun hatte. Hier in Australien würde sie doch nur zugrunde gehen. Sie war für dieses Leben einfach nicht geschaffen, und ihre wirkliche Berufung war es, als Ärztin zu arbeiten.
Für einen Augenblick kam ihr der Gedanke an Harald, und dabei stieg unwillkürlich Angst in ihr hoch. Wenn er jemals erfahren würde, wo sie war, dann…
»Was soll er mir denn jetzt noch anhaben?« fragte sie und erschrak dabei vor ihrer eigenen Stimme, die in dem dunklen Raum so laut und irgendwie unwirklich klang. »Er arbeitet längst an einer anderen Klinik und hat keine Ahnung, wo ich bin. Außerdem hätte seine Rache überhaupt keinen Sinn mehr.«
Trotzdem gelang es ihr nicht, sich vollends zu beruhigen, und so rief sie kurzerhand bei ihrem Onkel an.
»Onkel Toni, hier ist Gabi«, gab sie sich zu erkennen. Sie sprach schnell, um Zeit zu sparen – kostbare Zeit. »Weißt du, wo Harry jetzt ist?«
»Harry? Wieso?« Und dann begriff er plötzlich, daß es seine Nichte war, die da anrief und von der er seit Monaten nichts mehr gehört hatte. »Gabi, Kleines, wo um Himmels willen steckst du denn?«
»In Australien«, antwortete Gabriela knapp. Sie wußte, daß sie ihrem Onkel vertrauen konnte. Er würde niemandem ein Sterbenswörtchen verraten. Dann drängte sie. »Bitte, Onkel Toni, es ist sehr wichtig. Ich muß wissen, wo Harry ist, sonst kann ich vielleicht nie mehr in meine Heimat zurückkehren.«
»Genau weiß ich es nicht«, meinte Prof. Köster. »Aber nach allem, was ich zuletzt über ihn gehört habe, ist er angeblich in eine ganz exklusive Privatklinik in die Schweiz gegangen. Angeblich soll er dort bereits Chefarzt sein.«
»Danke, Onkel Toni!« rief Gabriela, und es klang fast wie ein Jubelschrei.
Am nächsten Morgen kündigte sie ihre Stellung und rief dann kurzerhand bei Erika an, um ihr zu sagen, daß sie in sechs Wochen in Bayern eintreffen würde.
*
Als Wolfgang Metzler erwachte, saß Dr. Daniel an seinem Bett. Wolfgang versuchte sich aufzurichten, doch das wollte ihm noch nicht so recht gelingen, weil er von dem starken Medikament immer noch ein wenig benommen war.
»Ich muß wohl eine halbe Ewigkeit geschlafen haben«, meinte er. »Wie spät ist es?«
»Kurz vor neun Uhr morgens«, antwortete Dr. Daniel, dann stand er auf. »Laß dir Zeit, Wolfgang. Du hast am späten Abend von Gerrit eine zweite Spritze bekommen, die dich den ganzen Vormittag über noch ein wenig müde machen wird. Es hat also keinen Sinn, wenn du versuchst aufzustehen oder gar zu arbeiten.«
Dr. Metzler nickte. »Ich werde die Zeit nützen, um über alles, was in den vergangenen Wochen passiert ist, gründlich nachzudenken.«
»Tu das, Wolfgang.« Dann lächelte Dr. Daniel. »Deiner Erika geht es übrigens gut, und du wirst es nicht glauben, aber während du geschlafen hast, hat sie eine Anästhesistin für die Klinik gefunden, die in ungefähr sechs Wochen hier sein wird.«
Auch Dr. Metzler lächelte jetzt. »Sie ist wirklich mein Goldstück. Wenn ich sie nicht hätte…« Er sah Dr. Daniel an. »Darf ich zu ihr hinübergehen?«
»Warte damit lieber noch ein bißchen, Wolfgang. Das Medikament wirkt noch nach, außerdem war ich vorhin gerade bei Erika und habe ihr deinen nächsten Besuch für die Mittagszeit angekündigt. Sie hat gemeint, daß sie dann versuchen würde, am Vormittag noch ein wenig zu schlafen.«
»In Ordnung, Robert.« Er legte eine Hand auf Dr. Daniels Arm. »Danke – vor allem für dein Verständnis. Das habe ich nach allem, was ich mir geleistet habe, eigentlich gar nicht verdient.«
Dr. Daniel zuckte die Schultern. »Darüber kann man geteilter Meinung sein, Wolfgang. Ich bin der Ansicht, daß man mit Verständnis vielleicht weiterkommt als mit unerbittlicher Strenge.«
Errötend senkte Dr. Metzler den Kopf. »Das war ein Wink mit dem Zaunpfahl, aber ich verspreche dir, daß ich mich bessern werde – oder genauer gesagt, ich versuche einfach wieder so zu werden, wie ich es früher war. Das hat mir