Der Rat schwieg und streifte mit einem finsteren Seitenblick seine Schwester, die ganz bleich vor Grimm und Ärger, langsam am Eßtisch hinging und zwecklos verschiedene Gegenstände aufnahm, um sie wieder hinzulegen. Jetzt trat sie rasch an die Wiege und befühlte die Stirn des schlafenden Knaben. »Du siehst Gespenster, – dem Kinde fehlt nichts!« sagte sie in ihrer kurzen, entschiedenen Weise, aber wie man sah, selbst erleichtert durch das Resultat ihrer Untersuchung.
»Gott sei Dank!« rief der Rat tiefaufatmend. »Ich weiß, du verstehst dich darauf, Therese! – Aber es wäre jedenfalls praktischer gewesen, Felix hätte oben in deinem Zimmer gegessen. Trine hat recht, Veit kann kein starkes Geräusch, nicht einmal lautes Sprechen vertragen – wir werden uns deshalb, solange dein Sohn hier ist, im vorderen Eckzimmer aufhalten ... Für jetzt muß das Kind in seine Schlafstube – die Luft hier ist zu dick, voller Speisedunst.«
Er ergriff die Wiege am Kopfende und winkte der Amme, die entgegengesetzte Seite aufzunehmen; aber die Majorin legte selbst Hand mit an, und so trugen die beiden alternden Geschwister den neuen Träger des Wolframschen Namens – ihrem Familienbewußtsein und Dünkel nach ein Menschenkind, kostbar wie ein Königsohn – durch Küche und Hausflur, und die Amme folgte, hochmütig das fette Doppelkinn vorstreckend, breitspurig mit ihrem Strickstrumpfe.
4.
Die Türen blieben offen, und Felix fühlte den lebhaften Wunsch, auch hinauszugehen und das »alte Falkennest«, aus dem der klägliche, kümmerliche Sproß da drüben schon jetzt mit seinen Spinnenfingerchen jeden Insassen anderen Namens stieß, auf Nimmerwiederkehr zu verlassen ... Von Neid und Mißgunst war keine Spur in der Seele des jungen Mannes; er hatte im Gegenteil laut aufgejubelt bei der Nachricht, daß ein Wolfram geboren sei; denn ihm war der Gedanke, einst auf dem Mustergut hausen zu müssen, immer ein verhaßtes Schreckgespenst gewesen. Freilich hatte er sich nicht träumen lassen, daß sich mit dem ersten Atemzuge des kleinen, mißgestalteten Burschen eine Wandlung vollziehen würde, die das Leben auf dem Klostergute geradezu unerträglich und ihn damit gewissermaßen heimatlos machte.
Der Onkel hatte ihm eben noch die Rolle eines Überflüssigen zugewiesen, der in jede beliebige Ecke gesteckt wurde, wenn seine Anwesenheit den schwachen Nerven des Wickelkindes nicht zusagte. – So hart und streng der Rat den phantasievollen Knaben einst behandelt, dem angehenden jungen Manne gegenüber war er doch in den letzten Jahren rücksichtsvoller, gleichsam vertraulicher gewesen. – Felix stampfte in zorniger Scham mit dem Fuße auf – das hatte nicht ihm, seinem aufrichtig gemeinten Streben, seinen erworbenen Kenntnissen gegolten, wie er fest geglaubt; es war die Rücksicht für den Einzigen gewesen, in dessen Adern noch Wolframsches Blut floß, die Achtung vor dem späteren Besitzer des Klostergutes. Nun schüttelte der Rat »das notwendige Übel«, den Lückenbüßer ab – in der seidenbehangenen Wiege lag sein eigen Fleisch und Blut – er trat wieder brüsk und herrisch auf, wie er einst mit dem fremden, jung einfliegenden Vöglein, dem armen »Kolibri« verfahren.
Und die Mutter? – Der Sohn zweifelte nicht an ihrer mütterlichen Liebe, wenn sie auch mit den äußeren Zeichen derselben kargte, wie beim Geldausgeben – sie verachtete jede lebhaftere Gefühlsäußerung als »geziertes Wesen«. Von dem Verstand und Charakter ihres Bruders hatte sie die höchste Meinung – seine unbeugsame Härte und Strenge gehörte zum Manne, wie der Ordnungssinn und die Häuslichkeit zur Frau – sie ging blindlings mit ihm. In bezug auf das Haus aber, dem sie entstammt, sollte sie geradezu spartanisch hart denken; das Interesse ihres Sohnes käme erst in zweiter Linie, behaupteten die wenigen näheren Bekannten, die auf dem Klostergute verkehrten. Das vermeintliche Aussterben der länger als Jahrhunderte hindurch blühenden, hoch angesehenen Familie war ihr stets ein nagender Kummer gewesen; sie hatte die kleinen, flachshaarigen Nichten nie geliebt, und für die Mutter, die ihnen das Leben gegeben, eine Art Mißachtung im Herzen getragen. Das wußte Felix so gut, wie er stets den tiefen Schatten beobachtet hatte, der über ihre Stirne hinzog bei der Bemerkung anderer, daß die Namen Lucian-Wolfram dereinst vereint dem Besitztum ihrer Familie vorstehen sollten – die unversöhnliche Frau gönnte diese Auszeichnung dem Namen dessen nicht, der »sie unglücklich gemacht hatte« ... Sie war mithin am wenigsten geeignet, die schlimmen Eindrücke, die ihr Sohn eben empfangen hatte, zu mildern, ihm im Hause des Bruders den Boden unter den Füßen wiederzugeben ... Aber wozu denn auch? – Er brauchte und wünschte ja selbst diese ungastliche Heimat nicht mehr!
Der junge Mann, der eben noch in zorniger Aufwallung den Fuß zum Fortgehen auf die Schwelle gesetzt hatte, kehrte rasch zurück und trat an das Fenster der Wohnstube – trotzig und empfindlich durfte er jetzt nicht sein; er war ja nicht zu seiner Erholung, wie er fälschlich geschrieben, sondern zu einer dringenden Besprechung gekommen.
Eine heiße Angst machte ihm plötzlich das Herz heftig schlagen – er hatte sich in Berlin diese Unterredung bei weitem leichter gedacht; jetzt, wo er die zwei ernsten, verschlossenen Gesichter auf dem streng einfachen Hintergrund eines bürgerlich geregelten Hausstandes wiedergesehen, erschien ihm sein Vorhaben riesengroß an Schwierigkeit. »Lucile!« flüsterte er aufseufzend, und sein Blick irrte durch das laubbeladene Geäst der draußenstehenden Rüster, das die Spätnachmittagssonne hier und da in prangendem Maiengrün transparent aufleuchten machte. Und wie auf seinen Ruf hergelockt, schlüpfte über diesen goldgrünen Grund hin die geschmeidige Gestalt mit den lang über den Nacken rollenden Locken, jeden Nerv voll prickelnden, siebzehnjährigen Übermutes, die lieblich geschwungenen Lippen übersprudelnd von Tollheiten und Mutwillen – er fühlte die weißen, warmen Kinderarme um seinen Nacken verstrickt, fühlte das Wehen des blumenreinen Atems auf seiner Wange – und der ganze Rausch der Liebesseligkeit, der ihn seit Monden trunken machte, kam über ihn und gab ihm Kampfesmut und die Zuversicht seiner jugendlich idealen Lebensanschauung zurück.
Unterdessen war die Majorin in die Küche zurückgekehrt; sie hatte einen Brotlaib aus dem Schranke genommen und schnitt tüchtige Stücke für ein paar im Flur stehende Bettelkinder ab. Auch der Rat kam herein; Felix hörte seinen festen Tritt auf den Steinfliesen der Küche; er ging auf die Wohnstube zu, blieb aber plötzlich wie auf einen Ruck stehen.
Das eine Küchenfenster stand offen, und draußen im Hofe sagte ein Tagelöhner zu der Magd, die eben mit einem Arm voll frischen Klees nach den Ställen ging: »Du, der Alte drüben im Schillingshofe hat ja den Adam Knall und Fall fortgejagt; der Kutscher sagte es eben – dem tut's leid!«
»Geh an deine Arbeit! Für eure Klatscherei zahle ich keinen Tagelohn!« rief der Rat hinaus – der Mann fuhr zusammen, als träfe ihn diese herrische Stimme wie ein Messerstich.
Klirrend schlug der Rat das Fenster zu und griff nach einem der Trinkgläser, die sich spiegelblank auf einem Mauersims aneinanderreihten. »Leidest du es denn, daß die Leute vor deinen Augen die Zeit totschlagen und schwätzen?« fragte er finster seine Schwester.
»Die Frage war überflüssig – du weißt, daß ich auf die Hausgesetze halte so gut wie du!« versetzte sie abweisend, wenn auch ohne alle Empfindlichkeit. »Aber Adam hat das Gesinde rebellisch gemacht. Er ist doch noch der Kohlengeschichte wegen entlassen worden und war auch hier im Hause, um dir abermals vorzujammern – der Mensch drohte in seiner kopflosen Bestürzung mit einem Sprung ins Wasser –«
Felix war währenddessen auf die Schwelle der Wohnstube getreten; er sah von der Seite, wie der Onkel mechanisch an seinem dünnen Kinnbart drehte und dabei das gegenüberliegende Ganggeländer mit den trockenen Pferdedecken und Kornsäcken hin- und herirrenden Blickes so angelegentlich musterte, als höre er nur mit halbem Ohr, was seine Schwester sagte.
»Bah – Larifari!« fiel er ein, ihre Rede kurz abschneidend. »Wer's sagt, der tut's nicht!« – Er hielt das Trinkglas unter das Brunnenrohr und trank das frische, perlende Wasser mit einem Zuge aus. »Ich werde übrigens diesen Herrn von Schilling schließlich doch ein wenig auf den Mund klopfen müssen – er treibt