Als Felix vor zwei Monaten zur Beisetzung der Tante auf dem Klostergute gewesen war, da hatte zur selben Zeit auch Arnolds Hochzeit in Koblenz stattgefunden – der Freund hatte vorher nur kurz und trocken angezeigt, daß er »das lange Mädchen«, die Koblenzer Cousine, heirate ... Das war sie nun, die junge Frau, die neue Herrin des Schillingshofes, eine überschlanke Gestalt mit schmalen Schultern, an Brust und Rücken flach und dürftig, vornübergeneigt, wie die meisten großen Leute, und doch vornehm, sichtlich eine Dame von Stande in jeder ihrer lässig schleppenden Bewegungen. Das Gesicht konnte er nicht voll erfassen, in scharfer Profilstellung erschienen ihm die Züge langgestreckt, von englischem Typus, und blaß angehaucht; doch besaß die junge Frau einen herrlichen Schmuck in dem reichen, hellblonden Haar, das zwar elegant, aber so locker aufgesteckt war, als schmerze und beschwere diesen jungen Kopf peinlich jede Haarnadel. Sie sah öfter mit leisen Zeichen der Ungeduld abwechselnd nach den Fenstern und der Tür unter der Säulenhalle und ordnete und rückte wiederholt an den Tassen und Kuchenkörben.
Dann kam eine junge Person im weißen Latzschürzchen, augenscheinlich die Kammerjungfer, aus dem Hause. Sie legte ihrer Gebieterin einen weichen Schal um die Schultern und zog ihr Handschuhe an. Und die Dame stand da wie ein Automat; sie hielt die langen, schlanken Hände unbeweglich hingestreckt, bis jedes Knöpfchen geschlossen war; sie regte sich nicht, als das Mädchen vor ihr niederkniete und eine aufgesprungene Spange an dem farbigen Schuh wieder befestigte. Sie sprach auch nicht und zog nur schließlich, trotz der durchsonnten, köstlich warmen Juniluft, fröstelnd den Schal über der Brust zusammen. »Verwöhnt und nervös!« dachte Felix, während sie sich unmutig in die mit roten Kissen gepolsterte Ecke einer Bank sinken ließ.
Inzwischen war Adam, der langjährige Diener des alten Freiherrn Krafft, aus der Tür des Säulenhauses gekommen. Er wohnte im Schillingshofe, war Witwer und hatte sein einziges Kind, ein zehnjähriges Mädchen, bei sich. Das führte er jetzt an der Hand.
Die Kammerjungfer ging mit einem schnippischen Achselzucken an ihm vorüber, und die Dame auf der Bank sah nicht, daß er grüßte. Felix hatte den stillen, ernsthaften Diener sehr gern, dessen äußere Ruhe und Gelassenheit im Schillingschen Hause sprichwörtlich waren. Deshalb befremdete ihn die aufgeregte Hast, mit welcher der Mann den Rasenplatz umschritt und den Schillingshof verließ, um nach wenigen Minuten in den Hof des Klostergutes einzutreten. Sein kleines Mädchen schrie ängstlich auf und klammerte sich an ihn fest – ein großer Puter lief zornig kollernd auf es zu, als habe er die Absicht, ihm das rote Röckchen vom Leibe zu reißen.
Der Mann scheuchte das erboste Tier fort und sprach beruhigend auf das Kind hinein; aber das geschah in atemloser Aufregung, und die Wangen glühten ihm, als sei er betrunken.
Felix sah nur noch flüchtig, wie der alte Freiherr, auf den Arm seines Sohnes gestützt, in die Platanenallee trat und sich mit einer ritterlichen Handbewegung neben seiner Schwiegertochter niederließ – ein Gefühl inniger Teilnahme trieb ihn vom Fenster weg, in den Hausflur hinab. Auf der unteren Treppenwendung blieb er einen Augenblick stehen. Die Magd hatte mit Eierkorb und Buttergelte das Haus verlassen, und seine Mutter zog eben das Geflügel aus der Bratröhre.
»Mein Bruder ist nicht zu Hause, Adam,« sagte sie zu dem Manne, der an der Küchentüre stand. Sie setzte die dampfende Pfanne auf den steinernen Spültisch und trat an die Schwelle. »Ich will doch nicht hoffen, daß Sie ihn noch einmal mit der dummen Geschichte belästigen!«
»Ja, Frau Majorin,« unterbrach er sie höflich aber fest, »ich komme deswegen. Nur der Rat kann mir noch helfen; er weiß am besten, daß ich unschuldig bin – er wird der Wahrheit die Ehre geben.«
»Sie sind nicht bei Sinnen, Mann!« entgegnete die Majorin scharf und streng. »Soll der Herr Rat vielleicht beschwören, daß er mit der Dienerschaft des Herrn von Schilling niemals intim verkehrt hat?«
»Was ist denn das für eine Differenz zwischen hüben und drüben?« fragte Felix erstaunt hinzutretend.
»Ach, Herr Referendar, die Differenz bringt mich um Brot und Ehre!« sagte Adam mit brechender Stimme. Sonst hatte er den jungen Mann bei dessen Heimkunft immer freudestrahlend begrüßt – heute schien er gar nicht zu wissen, daß er ihn lange nicht gesehen hatte. »Eben hat mich mein alter, gnädiger Herr einen Duckmäuser, einen miserablen Spion genannt; er hat mir sein schönes Mundglas nachgeworfen, daß es in tausend Stücken auf dem Erdboden 'rumgeflogen ist –« »Sind ja recht schöne, adlige Manieren,« warf die Majorin trocken ein. Sie hatte währenddessen einen Bratenteller aus dem Küchenschrank genommen und hielt ihn, seine Sauberkeit prüfend, gegen das Fensterlicht.
Ihren Sohn empörte diese unbeirrte Geschäftigkeit angesichts des tief erregten Mannes. Er reichte ihm herzlich die Hand. »Ich begreife nicht, was den alten Herrn dermaßen erbittern mag, daß er sich zu Tätlichkeiten hinreißen läßt,« sagte er teilnehmend. »Noch dazu seinem treuen Adam gegenüber – er hat Sie ja immer vor allen anderen hochgehalten –«
»Nicht wahr, Herr Lucian, das wissen Sie auch? ... Ach, du mein Gott ja – und das ist nun alles aus!« rief der Mann in Jammer ausbrechend, und Tränen füllten seine Augen. »Ich ein Spion – ich! – Ich soll gehorcht haben, der Steinkohlengeschichte wegen, die mich auf der Gotteswelt nichts angeht!«
Felix sah seine Mutter verständnislos und fragend an.
»Er meint das Kohlenlager im kleinen Tale,« berichtigte die Majorin in ihrer wortkargen Weise. »Der Alte im Schillingshofe ist von jeher ein anmaßender Patron gewesen – er denkt, was er ausklügelt, das kann keinem anderen einfallen.«
»Der gnädige Herr hat's ja nicht selber ausgedacht, Frau Majorin,« – sagte Adam – »das ist's ja eben! ... Sehen Sie, Herr Referendar, er sagt immer, die Schillings und die Wolframs hätten seit Jahrhunderten die Klosteräcker am kleinen Tale gehabt, und es war' bis auf den heutigen Tag keinem eingefallen, von dem großen steinigen Grund nebenan, der den Gotters von alten Zeiten her gehört, eine Handbreit auch nur geschenkt zu nehmen, geschweige denn zu laufen – es ist zu elender Boden; der alte Gotter hat ihn oft genug selber verwünscht, er hat's so wenig gedacht, wie seine Nachbarsleute, die jahraus, jahrein daneben gepflügt und geackert haben, daß was Gescheiteres darunter stecken könnte. Da ist aber der fremde Ingenieur hieher versetzt worden, der hat gleich auf den ersten Blick gewußt, daß gerade unter diesem Grunde ein großes Kohlenlager ist – die Kohlen lägen ja geradezu am Tage, hat er gesagt –«
»Ist auch so gewesen,« fiel die Majorin vom Küchentisch herüber ein. Sie entfaltete ein schneeweißes Tellertuch und rieb und wischte an der Bratenschüssel.
»Und weil er mit meinem gnädigen Herrn von früher her bekannt war,« fuhr Adam fort, »so hat er ihm den Vorschlag gemacht, mit ihm zusammen den Grund zu kaufen und ein Kohlenbergwerk anzulegen. Mein Herr ist auch mit tausend Freuden drauf eingegangen, und sie haben alles im geheimen abgemacht. Weil aber gerade zu der Zeit die Hochzeit in Koblenz sein sollte, so ist der Ankauf des Grundstückes bis nach der Reise an den Rhein verschoben worden. Es ist ihnen ja nicht im Traume eingefallen, daß ihnen ein anderer zuvorkommen könnte – es hat ja keine Seele drum gewußt – so haben sie wenigstens gemeint – ja prosit! – wie sie nachher zum alten Gotter gekommen sind, da hat der geflucht und gewettert, er hätte sich überrumpeln lassen, er hätte dem Herrn Rat Wolfram seinen Grund um ein Spottgeld verkauft – und nun seien ja Kohlen die schwere Menge drunter, und der Herr Rat habe schon bei der Behörde auf das Grundstück Mutung eingelegt – ist das nicht die reine Zauberei, Herr Lucian?«
»Ein merkwürdiges Zusammentreffen auf alle Fälle!« rief der junge Mann überrascht.
»Das sage ich auch – es ist eben Glück dabei gewesen, und der Onkel kann nicht dafür, wenn es andere Schlafmützen vergessen,« setzte seine Mutter hinzu. »Übrigens lügt der alte Gotter, wenn er von Überrumpeln und von einem Spottgeld spricht – er hat sich zu Anfang ins Fäustchen gelacht, weil er seinen saueren Wiesengrund so vorteilhaft losgeworden ist.« Das klang so kühl und nüchtern, so fertig und abgeschlossen im Urteil.