Zögernd griff er nach seiner Ledertasche und warf den Riemen über die Schulter – er war zum Fortgehen gerüstet. Dennoch blieb er stehen und horchte gespannt, ob nicht wohlbekannte Schritte über den Vorsaal kämen... Es verstand sich von selbst, daß er das Klostergut auf Nimmerwiederkehr verließ; aber schmerzbewegt gestand er sich, daß es ihm unmöglich sei, von seiner Mutter für immer zu gehen, ohne ihr gesagt zu haben, wie ihm seine leidenschaftliche Heftigkeit ihr gegenüber leid tue; er mußte sie noch einmal sehen, selbst – wenn sie sein Abschiedswort in verächtlichem Schweigen anhören und nicht erwidern sollte.
Es war sehr schwül geworden. Am südlichen Himmel stieg eine schiefergraue Gewitterwolke auf; sie rückte allmählich wie mit bleierner Schwere vor, Linie um Linie erstickte das glanzvolle Abendlicht hinter ihr, und in die Häuser sank ein immer tieferes Dämmern, als bräche eine frühe Nacht herein.
Drunten im Vorderhofe herrschte jetzt beruhigende Stille. Das große Tor war geschlossen; seine Wölbung sah aus wie bekränzt durch die Kleebüschel, die das bröckelnde, zerklüftete Mauerwerk vom hochbeladenen Fuder weg an sich gerissen. Auch das Rasseln des Mauerpförtchens schwieg, nachdem der letzte verspätete kleine Kunde mit seinem ängstlich behüteten Milchtopf das Klostergut verlassen hatte. Vor dem Hühnerstall lag der Riegel, die Pfauen und Truthühner hockten auf ihren Stangen unter niederem Dache, und nur auf dem Rand des Brunnentrogs flatterten noch badelüsterne Tauben.
In der Platanenallee des Schillingshofes rührte und regte sich auch kein Leben mehr; alle farbenbunte und blinkende Ausstattung der eisernen Möbel war fortgeräumt, und die Baumhalle erhob sich mit ihren unbewegten Wipfeln und den regelmäßig aufsteigenden Stämmen wie aus dunklem Stein geschnitten unter den hochgetürmten Gewitterwolken. Von den blühenden Bosketten her aber wogte der Duft über die efeubewachsene Mauer in den Klosterhof, der in alten Zeiten, da noch die Mönche auf den Steinbänken unter den Linden saßen, auch ein undurchdringliches Dickicht von Heckenrosen, Weißdorn und Flieder, voll singender und brütender Vögel, in seinen tiefen, geschützten Ecken beherbergt hatte.
Eine Viertelstunde um die andere verging, und noch wanderte Felix wartend im Giebelzimmer auf und ab... War es wohl je so grabesstill im alten Klosterhause gewesen, wie jetzt, wo er mit schwerbeklommenem Herzen und hämmernden Schläfen auf ein Lebenszeichen horchte? ... Wieder trat er an das offene Fenster und sah in die Abenddämmerung hinaus – da, endlich kam es die Treppe herauf, über den Vorsaal her! Die Tür wurde geöffnet, und der Luftzug hob leise das Lockenhaar an der Schläfe des jungen Mannes; aber er wandte sich nicht um, er zögerte, in das zürnende Gesicht seiner Mutter zu sehen...
Ein schwaches Rauschen, als streife ein Vogel mit flatterndem Flügel an den Wänden hin, huschte hinter ihm über die Dielen, der Luftzug brachte plötzlich einen köstlichen Rosenhauch mit – dann legten sich samtweich und kühl, wie Blumenblätter, zarte Finger auf die heißen Augen des Aufhorchenden, und – sein Herz stand still, ein lähmender Schrecken machte ihn vom Wirbel bis zur Sohle erstarren – »Lucile!« stieß er schwach, wie mit verlechzender Kehle hervor.
Im Nu waren seine Augen befreit, und das reizendste Elfenkind, das je die Welt gesehen, hing wie ein Kobold lachend an seinem Halse; hinter der Tür aber, die sich eben schloß, sah er noch das schmunzelnde, breite Gesicht der Stallnymphe verschwinden – sie hatte »den Besuch« heraufgeführt.
»Um Gotteswillen, Lucile, was hast du getan!« rief er außer sich.
Die weichen Mädchenarme glitten augenblicklich von seinem Nacken, und das liebliche Gesichtsoval der jungen Dame verlängerte sich in namenloser Betretenheit – sie sah ihn mit halb erschrockenen, halb bösen Augen an. »Was ich getan habe?« wiederholte sie trotzig und schmollend. »Durchgebrannt bin ich! Ist das so schlimm?«
Er schwieg und horchte angstvoll nach dem Vorsaal hin – jetzt durfte seine strenge Mutter nicht kommen! Ihm war, als sei sein Kleinod, sein Abgott in eine Löwengrube gestürzt.
»Ich bitte dich, Felix, stehe nicht da, als sei dir die Butter vom Brote gefallen!« sagte Lucile ungeduldig und zog mit einem grimmigen Ruck das gelockerte Strohhütchen fester in die Stirn. »Bah, der Spaß ist verunglückt, wie ich sehe – ich hatte mir das lustiger gedacht! Meinetwegen –« sie zuckte nachlässig die Achseln – »ich kann auch wieder gehen, wenn ich dem gestrengen Herrn nicht gelegen komme.«
»Nein, o nein!« rief der junge Mann, und jetzt zog er das Mädchen stürmisch an sein Herz und bedeckte ihr zartes Gesichtchen mit leidenschaftlichen Küssen.
»Puh!« schüttelte sie sich und entschlüpfte ihm lachend und geschmeidig. Sie warf Hut und Taschentuch auf den Tisch und schleuderte eine lange, über den Busen gefallene Locke in den Nacken zurück. »So, nun bist du wieder vernünftig, Schatz,« sagte sie. »Gestern hättest du bei uns sein sollen – na, das Durcheinander! Du machst dir keinen Begriff! ... Mama telegraphierte, sie habe sich den Fuß vertreten, müsse deshalb ihr Gastspiel abbrechen, und die Intendanz gestatte, daß ich an ihrer Stelle nächsten Montag die Gisela in den ›Willis‹ tanze, ich solle sofort abreisen ... Ich saß gerade auf dem Balkon und knabberte mit dem Kakadu allerhand Gutes aus der Bonbonniere, die du mir mitgebracht hast – ich sage dir, wie eine zerplatzende Bombe fiel das Telegramm ins Haus – die Jungfern, die Bedienten, das Küchenpersonal, alles wimmelte wie ein Ameisenhaufen durcheinander!«
Ihre Schilderung gipfelte in einem kurzen melodischen Auflachen, während sie die goldene Uhr wieder befestigte, die sie bei einer ihrer lebhaften Gesten unabsichtlich aus dem Gürtel gerissen hatte.
»Ich wünsche nur, du hättest die Großmama gesehen,« fuhr sie fort. »Sie hat wieder ihre Neuralgien im linken Bein und sitzt wie festgenagelt im Lehnstuhl ... Du weißt, sie hat so einen großen, altadeligen Blick, der furchtbar imponierend ist, und wenn sie von ihrer Familie, den längst vermoderten Marquis Rougeroles, anfängt, da wird mir immer himmelangst. Sie zählte richtig wieder alle die Henris und Gastons, die sich immer in der Erde umdrehen müssen, der Reihe nach an den Fingern her, stampfte erbost mit dem gesunden Fuße auf und sagte, die Mama sei nicht recht klug, daß sie mich – nämlich den letzten Sproß der alten Ahnenreihe – mit dem dummen Ding, der Kammerjungfer Minna, allein in die Welt hineinreisen lasse – na, so sehr unrecht hatte sie nicht!« Sie kicherte schelmisch in sich hinein. Bei jeder ihrer unbeschreiblich graziösen Bewegungen klirrten die kostbaren Armbänder an ihren Handgelenken, das silbergraue Taftkleid rauschte in jeder Falte, und der starke Rosenduft, der ihrer Erscheinung entströmte, hatte längst den Veilchenhauch des Wäscheschrankes unterdrückt.
Jetzt sah sie flüchtig und prüfend mit den großen Augensternen, in denen helles Braun mit einem feurig schillernden Grün fortwährend um die Herrschaft stritt, zu dem jungen Mann empor. Er stand, die Hand auf den Tisch gestemmt, wie in stummer Verzückung da. Der augenblicklichen, unheildrohenden Lage und dem altfränkisch ausgestatteten Raum, welcher das Zimmer seiner tödlich beleidigten Mutter war, vollkommen entrückt, sah und hörte er nur das taufrische, quecksilberne Geschöpfchen, auf dessen vollockigen Scheitel die Grazien ihren ganzen Feenzauber ausgeschüttet ... Sie las die trunkene Zärtlichkeit in seinen Blicken und warf sich an seine Brust.
»Närrischer Felix, du!« sagte sie und zupfte ihn neckend am Ohr. »Was hattest du nur vorhin, als ich ankam? ... Und ich kam so stolz, weil ich den großartigen Gedanken gehabt hatte, durchzubrennen. Und gar so leicht war das durchaus nicht, mußt du wissen! ... Ich habe nun einmal von Mama her in Blut und Nerven und Muskeln, von meinem tollen Kopf an bis in den kleinen