2.
Die Frau Rätin Wolfram war an einem schneestöbernden Aprilmorgen im Familienbegräbnis beigesetzt worden. An jenem Tage hatte Felix Lucian nur auf wenige Stunden in die Heimat eilen können, um der verstorbenen Tante das letzte Geleit zu geben. Heute nun, nach zwei Monaten, wo der Syringenduft der ersten Junitage die Lüfte erfüllte und der abgeschüttelte Schnee der Baumblüte weiß auf dem Rasen lag, kam er wieder auf das Klostergut zu einer mehrtägigen Erholungszeit, wie er seiner Mutter geschrieben hatte.
In dem weiten Hausflur, den er nachmittags betrat, hatte die tote Hausfrau die letzte Rast gehalten. Noch war es ihm, als müsse Weihrauchduft das Deckengebälk bläulich verschleiern, und der Geruch der Buchsbaumgirlanden, zwischen denen die schlankhingestreckte Frau mit dem schlichten Flachshaar an den Schläfen so friedsam gelegen, ihm durchdringend entgegengeschlagen. Aber es waren heute nur wirbelnde Stäubchen, die in einem Lichtreflex an der Decke spielten; aus der offenen Küche quoll der Duft schmorenden Geflügels, und am Milchschanktische stand seine Mutter und zählte Eier in den Korb der Magd, die nach altem Brauch wöchentlich zweimal mit Eiern und frischgeschlagener Butter die Runde bei bevorzugten Stadtkunden machen mußte.
Einen Moment erstrahlten die Augen der Majorin wie unbewacht in nicht verhehltem Mutterstolz, als der schöne, hochgewachsene Jüngling auf sie zuschritt; aber sie hielt in jeder Hand fünf Eier und reichte ihm so behutsam über die Schulter hinweg die Wange zum Kuß. – »Gehe einstweilen hinauf, Felix!« sagte sie hastig, in der Besorgnis, sich zu verzählen, oder ein Ei zu zerbrechen.
Er zog schleunig die Arme zurück, die er um ihre Schultern geschlungen, und stieg die Treppe hinauf. Von der Wohnstube her klang ihm plötzlich Kindergeschrei nach – der neue Erbherr des Klostergutes schrie häßlich und boshaft auf wie eine junge Katze. Dazu krähten die Hähne im Hinterhof, und oben über den Vorsaal schlich der riesige, fette Hauskater. Er kam vom Kornspeicher, von der Mäusejagd und rieb und drückte sich behaglich an der eleganten Fußbekleidung des Heraufsteigenden hin – der junge Mann schleuderte ihn weit von sich und stampfte voll Abscheu mit den attackierten Füßen, als schüttele er Schnee ab.
Im Zimmer der Majorin standen die Fenster offen, und die weiche Frühlingsluft strömte herein; aber nicht sie trug den köstlichen Veilchenduft im Atem, der die ganze Stube erfüllte – er kam aus den offenen Flügeltüren eines Wandschrankes. Wie Silberschein flimmerte es in diesen tiefen Fächern; so glänzend türmte sich das Leinenzeug aufeinander; und zwischen diesen Paketen dorrten Tausende von Veilchenleichen. Nie hatte der kleine Knabe der Majorin ein Veilchensträußchen zu seiner Augenweide in ein Glas Wasser stellen dürfen – es stand ja nur im Wege und konnte umgeschüttet werden – wohl aber mußte er die kleinen Kelche zur Verherrlichung der Leinenschätze von den Stielen zupfen. Die weißen Lagen, mit denen die Mutter immer einen förmlichen Kultus getrieben, waren ihm deshalb stets verhaßt gewesen – er warf auch jetzt einen finsteren Blick nach dem Schranke.
Die Majorin war augenscheinlich beim Revidieren gestört worden; auf dem breitbeinigen Ahorntische im Fensterbogen lag noch das Buch, in das sie ihre Notizen zu machen pflegte. Felix kannte diese Hefte voll der verschiedenartigsten Rubriken sehr gut, aber die aufgeschlagene Blattseite hier war ihm neu in ihrer Bezeichnung. »Mitgabe an Hauswäsche für meinen Sohn Felix« stand obenan ... Sein eigener, künftiger Hausstand! – Er wurde rot wie ein Mädchen bei dieser Vorstellung ... Diese Dutzende von Gedecken, Handtüchern, Bettbezügen reihten sich breit und wichtig aneinander, als seien sie die erste Grundbedingung des künftigen Familienglückes ... Und dieses ernsthafte, langweilige Register sollte in dem übermütigsten, tollsten Lockenkopfe haften, der je auf weißen Mädchenschultern gesessen? – »O Lucile, wie würdest du lachen!« flüsterte er und lachte selbst in sich hinein.
Mechanisch ließ er die Blätter durch die Finger laufen. Hier, in dieser »Zinseneinnahme« summierten sich Tausende und Tausende. Welcher Reichtum! Und dabei dieses unbeirrte Sammeln und Sparen, diese Angst, daß mit einem zerschlagenen Ei ein paar Pfennige verloren gehen könnten! – Der junge Mann stieß das Heft wie im Ekel fort, und mit beiden Händen ungeduldig durch das reiche Blondhaar, fahrend, trat er an das Fenster. Mit seiner vornehmen Erscheinung, dem leisen Hauch feinsten Odeurs, der sie umschwebte, mit den ungesucht eleganten Manieren stand er auch heute so fremd zu dem »alten Falkennest«, wie die seinen Handschuhe, die er lässig abgestreift und hingeworfen, auf den plumpfüßigen, weißen Ahorntisch, die glänzenden Lackstiefel auf den groben, ausgetretenen Dielenboden paßten.
Er drückte die Stirn an das Fensterkreuz und sah hinaus. Wie ein Anachronismus steckte das Klosterhaus zwischen den geschmückten Neubauten. Jenseits der Straßenmauer lief jetzt die eleganteste, mit rotblühenden Kastanien besetzte Promenade der Stadt hin. Er schämte sich, daß die seine Welt täglich an dem geflickten Mauerwerk vorüber mußte; er fühlte sich gedemütigt angesichts des gegenüberliegenden, schloßartigen Hauses, von dessen bronzeumgitterten Balkons man den Hof übersehen konnte, der zwischen dem Klosterhaus und der Mauer lag. Wohl waren es vier herrliche, alte Lindenwipfel, die seine Mitte füllten – sie strotzten auch heuer wieder in maienhaftem Grün, von keinem dorrenden Ästlein entstellt –, allem die altehrwürdigen Steinsitze zu ihren Füßen und der Porphyrtrog des Laufbrunnens, den sie beschatteten, waren garniert mit dem frischgescheuerten Holzgerät der Milchkammer... Dazu der Lärm vom Hofe... Eben wurde frischer Klee eingefahren. Der Knecht fluchte über die enge Einfahrt des Torweges und hieb auf die Pferde ein; die barfüßige Stallmagd scheuchte zwei störrige Kälber, die sich in den Vorhof verlaufen, schimpfend aus dem Wege, Taubenschwärme flogen auf, das andere Federvieh stob schreiend auseinander – »Bauernwirtschaft!« murmelte Felix zwischen den Zähnen und wandte das beleidigte Auge zur Seite.
Dort breitete sich das schöne Erdgeschoß des Schillingshofes aus; und er atmete wie erlöst auf – dort war er ja immer heimischer gewesen, als auf dem Klostergute. Über die efeubewachsene Mauer hinweg sah er allerdings nur ein Stück des Rasenspiegels, in dessen Mitte die Wasser vor dem Säulenhause sprangen; er sah auch nur beim Hinausbiegen seitwärts einen Schein der Spiegelscheiben zwischen den Steinornamenten der Rundbogen blinken; aber dieser trennenden Mauer gegenüber schlossen drei Reihen prächtiger Platanen den Schillingshof von dem jenseitigen Nachbargrundstück ab. Sie konnte er vollkommen überblicken – sie liefen als Doppelallee vom Straßengitter aus neben der Südseite des Säulenhauses hin, tief in den eigentlichen Garten hinein. Diese herrliche Baumhalle war einst der Haupttummelplatz für ihn und seinen kleinen Freund Arnold gewesen; sie behütete treulich die grüne Dämmerung, die frische Kühle drunten, und für den Freiherrn Krafft war sie an heißen Sommertagen eine Art Salon; er empfing da Besuche, hielt seine Siesta und trank den Nachmittagskaffee unter den Bäumen.
Auch jetzt stand die Kaffeemaschine auf dem Tisch, aber nicht die wohlbekannte messingene – sie hatte einer silbernen Platz gemacht. Es gruppierte sich überhaupt viel Silbergeschirr dort, auch kleine, mit Likör gefüllte Kristallkaraffen funkelten dazwischen – so war der Kaffeetisch früher nie besetzt gewesen. Damals hatte man auch auf weißgestrichenen Gartenbänken von Holz gesessen,– heute stand eine Menge eleganter, gußeiserner Möbel zwischen den Bäumen; Schlummerrollen und farbenglänzende Kissen lagen umher, und aufgestellte, reichdekorierte Wandschirme bildeten behagliche, vor dem Zugwind geschützte Plauderwinkel.
Das Fremdartigste aber war die Dame, die in diesem Augenblick neben dem Säulenhaus