Gardner trank weiter.
Als er die elfte Dose importierter Tschechenpisse öffnete, war es schon nach zehn, und er das letzte Arschloch im Park. Er kippte sich noch etwas Lager die Kehle hinunter. Dann dachte er noch einmal über Danny nach, den persönlichen Assistenten. Nein, einen Kerl als Sekretärin anzustellen, sah dem alten Sportsfreund ganz und gar nicht ähnlich.
Gardner leerte sein zwölftes Bier und war überrascht, als er danach in die leere schwarze Plastiktüte griff. Die Tüte flatterte in einer Brise davon. Das Tumbleweed der Städte. Die Welt hatte aufgehört, aus geraden Linien und deutlichen Kanten zu bestehen. Jetzt sah alles verschwommen und undeutlich aus, wie in einem Traum. Gardner suchte in seinen Taschen nach Kleingeld. Dreiundsiebzig Pennys. Noch nicht mal genug für eine verdammte Dose Bier. Er stand auf, schob sich die Klöten zurecht und machte sich auf den Weg zur Temple-Station. Er sah auf die Uhr an der Station und stellte fest, dass es zu spät war, um den letzten Zug zurück nach Hereford zu erwischen. Doch dann sah er Bald selbstbewusst im Lichtschein der Straßenlaternen die Arundel Street herunterkommen.
Gardner legte seine Pläne auf Eis.
Kapitel 6
22:12 Uhr
Bald war nicht allein. Er hielt eine Frau im Arm. Hohe Wangenknochen und schmale Lippen, die wie mit Angelhaken in den Mundwinkeln zu einem verschlagenen Lächeln hochgezogen waren. Osteuropäerin, schätzte Gardner. Ihre Augen waren groß, rund wie Murmeln, und lindgrün. Sie trug einen kurzen schwarzen Rock über ihren Laufstegbeinen und eine weiße Bluse, die Gardner einen flüchtigen Vorgeschmack auf ihre Titten bot, als die beiden näherkamen. Riesig, und mit einiger Sicherheit falsch, aber wen interessierte das schon. Sie war die Art von Packung, für die sich Gardner die Augenlider ausgerissen hätte, um mit ihr eine Nacht zu verbringen. Sie erinnerte ihn schmerzlich daran, dass es ein Jahr her war, seit er es das letzte Mal mit jemandem getrieben hatte.
Die Frau hatte ihren Arm um Bald gelegt. Sie waren so von sich in Anspruch genommen, dass sie Gardner gar nicht bemerkten. Als sie nur noch einige Yards von ihm trennten, zog er sich in die dunklen Winkel eines anonymen Bürogebäudes am Ende der Arundel-Street zurück. Bald und die Frau zogen zum Victoria-Damm weiter.
Eine leise Stimme in Gardners Kopf riet ihm, den beiden zu folgen.
Gardner zählte bis zehn und dann trat er auf die Arundel-Street. Bald und die Frau näherten sich nun dem Damm, wo der Straßenverkehr vorbei heulte. Rote und weiße Autolichter, die wie Neonlibellen vorüber zischten. Gardner beobachtete, wie das Pärchen an der Straßenecke anhielt. Die Frau stellte sich in ihren Schuhen mit hohen Absätzen auf die Zehenspitzen und flüsterte etwas in Balds Ohr. Gardner glaubte schon, dass er aufgeflogen war. Aber dann ließ Bald seine Hand von ihrer Wange bis ganz hinunter zu der Wölbung ihres Hintern wandern. Mit der anderen Hand rief er ein schwarzes Taxi heran. Dann griff Bald in seine Geldbörse und händigte der Frau eine blaue Keycard von der Art aus, wie man sie in teuren Hotels bekam. Das Taxi fuhr heran. Bald hielt die Hecktür auf, Miss Osteuropa 2011 gab ihm einen letzten Kuss, bevor sie einstieg und sich das Taxi wieder in den nächtlichen Verkehr einordnete.
Bald, der jetzt allein war, setzte sich wieder in Bewegung, westlich entlang des Damms, auf die Waterloo Bridge zu. Gardner folgte ihm. Er hielt einen Sicherheitsabstand von vierzig Yards. Auf neun Uhr wand sich die Themse entlang wie ein See aus gelierten Aalen.
Je weiter Gardner den Damm entlang lief, umso lichter wurde der Verkehr. Nach vierhundert Yards überquerte Bald die Waterloo Bridge, und Gardner fragte sich, wohin sein alter Kumpel auf dem Weg sein mochte. Noch mal dreihundert Yards und sie befanden sich hinter der Villiers Street. Bald eilte nun die Stufen hinauf, die auf die Dammbrücke führten, immer zwei auf einmal. Er lief mit großen Schritten, und Gardner hatte Mühe, ihm zu folgen. Er konnte es sich nicht leisten, noch weiter zurückzufallen. Als er die Fußgängerbrücke erreichte, schwitzte er bereits stark. Das London-Eye hing skelettartig und unbewegt über dem südlichen Teil der Themse. Der Gehweg war ausgestorben. In Fünfzig-Yards-Intervallen säumten Stützpfeiler die Brücken, die weit oben über dem Gehweg Stahlseile mit sich führten. Fünfzehn Yards unter sich konnte er das müde Plätschern des Flusses hören.
Jetzt gibt es nur noch dich und John, sagte die Stimme in Gardners Kopf.
Zeit für eine Abreibung.
Gardner rannte los. Aus zwanzig Yards wurden zehn, und plötzlich war Gardner direkt hinter Bald und kämpfte gegen den Drang an, ihm einen Schlag auf den Hinterkopf zu versetzen.
»He«, sagte Gardner. »Wir müssen uns verdammt noch mal unterhalten.«
Bald blieb ruckartig stehen. Er drehte sich nicht um. Ganz so, als hätte er bereits die ganze Zeit über gewusst, dass Gardner ihn verfolgte. Stattdessen ließ er Kopf und seine Schultern sinken und fragte müde: »Was ist los, Joe?«
»Das Bewerbungsgespräch war ein Haufen Scheiße. Du hattest nie vor, mir den Job zu geben, und vielen Dank auch, dass ich mir den Weg umsonst machen durfte.«
Jetzt drehte Bald sich um. Seine Hände behielt er in den Taschen seiner Jeans. Gardner war so wütend wie nie zuvor. Er konnte die Wut förmlich in der Kehle spüren. Sechs Yards trennten sie voneinander. Dann trat Bald ein paar Schritte näher an Gardner heran.
»Du bist besoffen, Joe. Geh nach Hause.«
Aber Gardner wich nicht von der Stelle. »Ich bin so nüchtern wie eh und je.« Ihn wunderte, wie stark er lallte.
»Du stinkst aus dem Maul, als hätte eine Ratte hinein gepisst.«
»Wir waren Kameraden«, sagte Gardner und schüttelte den Kopf in der vagen Hoffnung, ihn davon frei zu bekommen. »So behandelt man nicht mal einen Hund.«
Bald baute sich direkt vor Gardner auf. Die beiden Männer standen sich nun so nah gegenüber, dass Gardner jede einzelne Narbe auf Balds Gesicht ausmachen konnte.
»Kameraden?«, fragte Bald ungläubig. »Wir haben an dem Tag aufgehört, Kameraden zu sein, als du mich zum Sterben zurückgelassen hast. Und jetzt sei ein guter Junge und verschwinde zurück nach Hereford.«
Gardner antwortete mit der Faust und holte zu einem rechten Aufwärtshaken aus. Aber Bald reagierte blitzschnell. Er riss die linke Hand nach oben und wehrte den Schlag ab. Dann stieß er seine rechte Hand nach vorn und versuchte, Gardners verletzliche künstliche Hand in die Finger zu bekommen.
Gardners Blut kochte. Bald stand mit dem Rücken zum Geländer, die Fäuste auf Brusthöhe, und wartete auf einen weiteren Schlag. Aber Gardner wusste, dass die Überraschung der Schlüssel war, um jeden Kampf zu gewinnen. Er stieß den Kopf nach vorn, bereit, Bald die Stirn an den Kopf zu rammen. Ein Glasgow-Kiss, wie man das auch nannte.
Doch Bald war überraschend wendig. Er trat schnell einen Schritt zur Seite und ließ Gardner ins Leere laufen. Nun war Gardner aus dem Gleichgewicht geraten und der Schwung trieb ihn nach vorn. Balds riesige Hand umklammerte sein Genick und holte ihn von den Füßen. Gardner wurde nach oben gehoben und über das Geländer geworfen. Die Welt um ihn begann sich unkontrolliert zu drehen. Er spürte, dass sein Herz wie verrückt schlug, und es ihm die Luft aus der Lunge drückte. Um ihn herum gab es nur noch die scheinbar endlose Themse, in deren glänzende Schwärze er stürzte.
Kapitel 7
22:41 Uhr
Bald spähte über das eiskalte Stahlgeländer