Das Leben hatte es nicht allzu gut mit Gardner gemeint, seit er den MI6-Agenten Leo Land daran gehindert hatte, einen Konflikt zwischen Israel und dem Iran anzuzetteln. Land war öffentlich bloßgestellt worden und der Krieg konnte mit knapper Not verhindert werden, aber die Medien werteten es nicht als seinen Verdienst. Nicht, dass er das gewollt hätte. Aimée Milana, die Journalistin, die er beschützt hatte, starb vor den Augen der weltweiten Presse auf dem Parliament Square durch die Kugel eines Scharfschützen. Das 7.62x51mm NATO-Geschoss drang in ihr linkes Auge ein, bohrte sich durch ihr Gehirn und trat an der linken Schulter wieder aus. Aimée war sofort tot, und ihr Tod machte sie gleichzeitig zur Märtyrerin und zur unerschrockenen Ermittlerin, die diesen Plan aufgedeckt hatte. Gardner hatte sie nicht geliebt, aber sie bedeutete ihm genug, um ihr den Ruhm nach ihrem Tod zu gönnen.
Er verließ die U-Bahn und betrat die chaotische Umarmung von Charing Cross. Noch mehr Bullen. Die Menschenmengen erschienen ihm kleiner, als er sie von seinem letzten Besuch in Erinnerung hatte. Nach der Schießerei an der Knightsbridge war die Anspannung groß. Ausgaben der Metro bedeckten den Boden, mit Schuhabdrücken und Vogelscheiße bedeckt. Er erhaschte einen Blick auf die Hälfte einer Headline. »HORROR« stand da in Großbuchstaben neben dem pixeligen Bild einer Überwachungskamera, das eine blutüberströmte Frau zeigte. Er hielt sich links und beobachtete aus den Augenwinkeln die Wolken, die sich wie überfüllte Mehlsäcke am Himmel stapelten.
Gardner beschleunigte seine Schritte und versuchte, sich in dem billigen Anzug, den er trug, halbwegs wohlzufühlen. Er eilte die Whitehall hinunter, vorbei an den beeindruckenden klassischen Gebäuden, den alten Pubs und den Souvenirläden. Hinter dem Hauptquartier der Household Cavalry bog er nach links auf die Horse Guards Avenue ab und tippte sich vor dem Denkmal zu Ehren der Gurkha am Verteidigungsministerium leicht und anerkennend an die Stirn. Dann noch einmal nach links, und er fand sich am Whitehill Court wieder. Nach zwanzig Yards die Straße hinunter fand er den Ort, nach dem er suchte.
Verglichen mit dem Pomp drumherum wirkte das Gebäude sehr verhalten. Es war ein dreistöckiges Bauwerk mit einer stuckverzierten Fassade und einer Eichentür, in deren Oberlicht aus dunklem Glas in säuberlich gravierten Goldbuchstaben der Firmenname zu lesen war: Talisman International. Das ›International‹ hatte man zu ›Int'l‹ abgekürzt. Gardner trat an die Gegensprechanlage rechts der Tür und drückte auf den Summer.
»Ja?«, plärrte eine Frauenstimme.
»Joe Gardner. Ich bin wegen eines Bewerbungsgesprächs hier.«
Statisches Knacken drang aus dem Lautsprecher. Gardner kratzte sich über seinen frisch gestutzten Bart und rückte seine Krawatte zurecht.
»Kommen Sie bitte herein.«
Mit einem diskreten Klicken entriegelte sich die Tür. Gardner drehte den Türknauf aus Messing und betrat den Empfangsbereich. Die Frau, die mit ihm durch die Gegensprechanlage gesprochen hatte, empfing ihn mit ernster Miene. Sie war auf enttäuschende Art alt und fett. Er meldete sich an und bekam eine Besucherplakette ausgehändigt.
Mit dem rumpelnden Aufzug fuhr er in den ersten Stock. Als er hinaustrat, wurde er überrascht. Dieses Stockwerk sah so gar nicht nach dem Herrenklub-Dekor an der Rezeption aus. Die dunkel gerahmten Porträts und der muffige Geruch von altem Geld waren verschwunden. Stattdessen befand er sich in einem weiß gekachelten Flur mit mattierten Glastüren. Der Geruch von frisch geschlagenem Kiefernholz hing in der Luft. Vor der Tür zum Bewerbungsraum hielt er kurz inne und wischte sich über die Augenbrauen.
Gardner hatte Terroristen gegenübergestanden und war von afrikanischen Warlords niedergeschossen worden, aber Bewerbungsgespräche jagten ihm eine Höllenangst ein. Scheiß drauf, dachte er. Bringen wir es hinter uns. Er öffnete die Tür und betrat ein langes und breites Konferenzzimmer. Ein weißer Walnussholztisch stand vor ihm. Einige Cisco-Telefone standen aufgereiht auf dem Tisch, zusammen mit einem Projektor, und an einer Wand des Zimmers war eine weiße Leinwand heruntergezogen worden.
Drei Personen saßen am hinteren Ende des Tisches.
Ganz links saß eine Frau. Schlanker Körperbau, kleine Brüste, Anfang Dreißig. Ihr braunes Haar war schlicht nach hinten zusammengebunden, und sie trug ein unauffälliges Kostüm. An ihrem Ringfinger sah er einen diskreten Ehering, was Gardner deprimierte.
Der Kerl auf der rechten Seite war beinahe so dünn wie die Braut. Er saß steif in seinem Sessel und kritzelte etwas auf einen Notizblock. Konservativer blauer Anzug, weißes Hemd, graue Krawatte. Sein Gesicht war glatt und sauber rasiert, seine Fingernägel makellos gepflegt. Er sah nicht so aus, als hätte er schon jemals Gewichte gestemmt, geschweige denn eine Nacht allein im Dschungel verbracht.
Dann musterte Gardner die Person in der Mitte, und musste zweimal hinsehen. Er blinzelte. Seine Augen betrogen ihn nicht. Der Mann saß mit ausgebreiteten Händen da und warf Gardner einen selbstgefälligen, spöttischen Blick zu.
»Hallo, Joe«, sagte er.
Eine lange Pause folgte, in der sich ein unsichtbares Seil um Gardners Brust zuschnürte.
»Das ist Nancy Rayner«, sagte der Mann und deutete nach rechts. »Und das ist Danny, mein persönlicher Assistent«, fügte er hinzu und nickte in Richtung des Unternehmertrottels zu seiner Linken.
Aber Gardner konnte seinen Blick nicht von dem Mann in der Mitte abwenden.
»Sie beide kennen sich?«, fragte Rayner, deren Augen zwischen Gardner und dem Mann, der neben ihr saß, hin und her zuckten.
»Das tun wir«, flüsterte Gardner. »Hallo, John.«
Kapitel 5
13:34 Uhr
Für einen toten Mann sah John Bald ziemlich gut aus. Er trug ein olivgrünes Ralph-Lauren-Poloshirt, Stonewash-Jeans und braune Timberlands. Die Muskeln an seinen Unterarmen wölbten sich hervor wie zwei verknotete Gartenschläuche, die jeden Moment zu platzen drohten. Eine TAG Heuer Aquaracer-Armbanduhr schimmerte an seinem Handgelenk.
»Du bist nicht hier«, sagte Gardner. »Du bist verdammt noch mal tot.«
Bald lehnte sich zurück und lachte hinauf an die Decke. Es war ein grundehrliches, selbstsicheres Lachen und gab Gardner das Gefühl, als wäre er etwas, dass Bald von seinem Schuh kratzen würde.
»Und jetzt bin ich wieder da«, sagte Bald. »Halleluja! Das ist ein Wunder, Joe – oder nicht?«
Gardner trat näher. Tiefe, dicke Narben hatten sich wie Stacheldraht in Balds Wangen gegraben. Seine Stirn war von rosafarbenen Einschnitten gezeichnet. Narbengewebe. Plötzlich prasselten die Erinnerungen auf Gardner ein. Das Dorf Brezovan. Das Presevo-Tal in Serbien. Hilflos hatte er mit ansehen müssen, wie die Schergen der Russenmafia Bald mit Blei vollpumpten. Die Kugeln hatten furchtbare Wunden gerissen, waren wie Donnerschläge durch Balds Körper gedrungen und hatten Fleischklumpen herausgerissen. Und Gardner hatte nichts dagegen tun können.
»Aber ich habe dich mit eigenen Augen gesehen. Du hattest mehr Löcher in dir als ein verdammtes Sieb.«
»Ich hatte Glück«, sagte Bald. »Ich war für Stunden bewusstlos. Lag einfach in dieser beschissenen fauligen Grube. Zum Sterben zurückgelassen. Dann kam ich wieder zu mir. Es war dunkel, aber irgendwie schaffte ich es, mich bis in die nächste Stadt zu schleppen. Nur Gott weiß, wie ich es soweit schaffen konnte. Ein Bauer fand mich und fuhr mich ins Krankenhaus. Ich erinnere mich noch an grelles Licht und an einen Arzt, der mir erzählte, dass ich es nicht schaffen würde.«
Balds Augen funkelten wie blanker Stahl.
»Ich