Eine dicke Schwester war daran, das Zimmer zu kehren.
»Schwester«, sagte Studer und seine Stimme war fest, »ich hab Hunger.«
»So, so«, sagte die Schwester nur, kam näher, beugte sich über Studer. »Geht’s besser?«
»Wo bin ich?« fragte Studer und begann zu lachen. So fragten doch immer die Helden in den Romanen von… von… wie hieß die alte Trucke nur, die immer Romane schrieb? Felicitas? Ja, Felicitas…
»Gemeindespital Gerzenstein«, sagte die Schwester. Irgendwo spielte Musik.
»Was ist das?« fragte Studer.
»Hafenmusik – Hamburg«, sagte die Schwester.
»Gerzenstein und die Lautsprecher«, murmelte Studer. Und dann gab es Milch und Weggli und Anken und Konfitüre. Studer bekam Lust nach einer Brissago. Aber als er diesen Wunsch äußerte, kam er bei der Schwester bös an.
Und dann kam ein Nachmittag, an dem er allein im Zimmer lag. Seine Frau war nach Bern zurückgefahren und hatte versprochen, ihn am Ende der Woche holen zu kommen.
Da kam die Schwester herein, eine Dame (sie sagte ›eine Dame‹) wolle den Wachtmeister sprechen. Studer nickte.
Die Haare der Dame waren weiß wie… wie… Flieder.
Studer wusste, dass Äschbacher im See ertrunken war. Ein Unglücksfall, war ihm gesagt worden. Studer hatte genickt.
Die Dame setzte sich an Studers Bett, die Schwester ging hinaus. Die Dame schwieg.
»Bonjour Madame«, sagte Studer mit einem hilflosen Versuch, zu scherzen. Die Dame nickte.
Schweigen. Eine Hummel strich summend durchs Zimmer. Es musste wohl Ende Juni sein.
»Es war meine Schuld«, sagte Studer leise. »Ich hab ihn nach Ihnen gefragt, Madame, und da hat er geweint. Die Tränen sind ihm über die Wangen gelaufen. Ja. Und dann hab ich ihn noch gefragt, was Sie gemeint hätten, so, zu der ganzen Sache. Dann hat er mich noch gewarnt. Ich habe gerade Zeit gehabt, aus dem Wagen zu springen. Ich mein’ er ist dann über die Mauer… Glauben Sie nicht, es ist besser so?«
»Ja«, sagte die Dame. Sie weinte nicht. Sie hatte die Hand auf Studers Arm gelegt. Eine sehr leichte Hand.
»Ich sage nichts, Madame«, sprach Studer ganz leise.
»Danke, Herr Studer.«
Das war alles.
Und einmal kam Sonja Witschi. Sie bedankte sich. Die Versicherung war nicht ausbezahlt worden. Der Untersuchungsrichter hatte sie alle drei vorgeladen, die Mutter, Armin und Sonja. Man hatte davon abgesehen, eine Klage auf Versicherungsbetrug zu stellen. Man war froh, den ganzen Fall Witschi ad acta zu legen…
– Wie es dem Schlumpf ginge, wollte Studer wissen. Gut, sagte Sonja und wurde rot.
… Die Sommersprossen auf dem Nasensattel, an den Schläfen…
– Armin werde auch bald heiraten, sagte sie. Die Mutter habe noch immer den Bahnhofkiosk.
Und zum Schluss kam der Untersuchungsrichter. Sein seidenes Hemd war diesmal cremefarben. Den Siegelring trug er noch immer.
»Ich war schon einmal da, Herr Studer«, sagte er. »Aber der Arzt war so grob. Ich wundere mich immer über den Mangel an guter Kinderstube bei akademisch gebildeten Leuten, bei Medizinern vor allem.«
– Das sei nun einmal so, meinte Studer. Er hatte die Hände auf der Bettdecke gefaltet und drehte die Daumen umeinander.
»Warum sind Sie damals mit Äschbacher gefahren, Herr Studer? Hatten Sie etwas Wichtiges entdeckt? Sie machten damals so merkwürdige Andeutungen? Hat Witschi eigentlich keinen Selbstmord begangen, war es doch ein Mord? Hat Ihnen der selige Herr Gemeindepräsident etwas mitgeteilt? Etwas Wichtiges? Das er auch mir mitteilen wollte? Sie schweigen, Studer? Was hat Ihnen Äschbacher mitgeteilt, dass Sie es so eilig hatten, mit ihm nach Thun zu fahren?«
Studer starrte zur Decke, schwieg eine Zeit lang. Dann sagte er, und seine Stimme war ausdrucklos:
»Nüt Apartigs…«
ENDE
Die Geschichte vom Hellseherkorporal
Da lies!«, sagte Studer und hielt seinem Freunde Madelin ein Telegramm unter die Nase. Vor dem Justizpalast war es finster, die Seine rieb sich glucksend an den Quaimauern, und die nächste Laterne war einige Meter weit entfernt.
»das junge jakobli lässt den alten jakob grüßen hedy«, entzifferte der Kommissär, als er unter dem flackernden Gaslicht stand. Obwohl Madelin vor Jahren an der Straßburger Sûreté gearbeitet hatte und ihm darum das Deutsche nicht ganz fremd war, machte es ihm doch Mühe, den Sinn des Satzes zu verstehen. So fragte er:
»Was soll das heißen, Stüdère?«
»Ich bin Großvater«, antwortete Studer mürrisch. »Meine Tochter hat einen Sohn bekommen.«
»Das muss man feiern!«, beschloss Madelin. »Und außerdem trifft es sich günstig. Denn heute hat mich ein Mann besucht, der mit dem Halbelf-Uhr-Zug in die Schweiz reist und mich gebeten hat, ihn an einen dortigen Kollegen zu empfehlen. Ich hab’ ihn auf neun Uhr in eine kleine Wirtschaft bei den ›Hallen‹ bestellt… Jetzt ist es…«, mit seinen Händen, die in Wollhandschuhen steckten, knöpfte Madelin seinen Überzieher auf, dessen Kragen sich von seinem Halse abwölbte, zog eine alte Silberuhr aus seiner Westentasche und stellte fest, dass es acht Uhr sei. »Wir haben Zeit«, meinte er befriedigt. Und während ihm die Bise seine ungeschützten Lippen zerriss, tat er einen tiefsinnigen Ausspruch: »Wenn man alt wird, hat man immer Zeit. Sonderbar! Geht’s dir auch so, Stüdère?«
Studer brummte. Doch wandte er sich brüsk um, denn eine hohe, krächzende Stimme sagte:
»Und ich darf doch auch Glück wünschen? Oder? Unserem verehrten Inspektor? Herzlich Glück wünschen?«
Madelin, groß, hager, und Studer, ebenso groß, nur massiger, mit breiteren Schultern, wandten sich um. Hinter den beiden hüpfte ein winziges Wesen – zuerst wusste man nicht, war es eine Frau oder ein Mann: der lange Mantel fiel bis zu den Knöcheln, das Béret war bis zu den Augenbrauen gezogen, der Wollschal verhüllte die Nase – sodass nur die Augen freiblieben, und auch diese versteckten sich hinter den Gläsern einer riesigen Hornbrille.
»Pass auf, Godofrey!«, sagte der Kommissär