Blieb noch übrig, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Witschi hatte Selbstmord begangen, das würde zu beweisen sein, leicht zu beweisen sein, der Untersuchungsrichter war überzeugt, Schlumpf kam frei – die Familie Witschi würde ihr Haus verkaufen müssen, die alte Frau würde weiter im Kiosk sitzen und Romane lesen, der Armin würde die Saaltochter heiraten und eine Wirtschaft kaufen, und Sonja? Sonja würde den Schlumpf heiraten, der Erwin würde mit der Zeit Obergärtner werden, und Äschbacher? Mein Gott, er würde sicher nicht der einzige Mörder sein, der straflos in der Welt umherlaufen würde.
»Ihr habt ganz recht, Wachtmeister«, tönte Äschbachers Stimme in die Stille. »Es hat gar keinen Wert, die Sache weiter zu verfolgen. Ihr blamiert Euch nur. Habt Ihr Euch nicht schon einmal blamiert, damals, in jener Bankaffäre? Glaubet doch dem Polizeihauptmann, folget seinem Rat. Es ist besser, Studer, glaubet mir. Noch einen Grog?«
»Gern«, sagte Studer und versank wieder in Schweigen. War es nicht merkwürdig, dass Äschbacher Gedanken lesen konnte? Studer fröstelte. Der stechende Punkt in der Brust war wieder da, kalter Schweiß brach aus. Draußen vor den Fenstern hockte ein grauer Nebel, es war, als ob die Wolken auf die Erde gefallen wären. Und dann war es kalt im Zimmer. Studers Stumpen war ausgegangen, er hatte nicht den Mut, ihn wieder anzuzünden; er hatte überhaupt keinen Mut mehr, er war krank, er wollte ins Bett, er hatte eine Brustfellentzündung, Herrgott noch einmal! Und mit einer Brustfellentzündung geht man ins Bett und spielt nicht den scharfsinnigen englischen Detektiv mit deduktiven Methoden à la Sherlock Holmes. Staub in einer Tasche! Wenn schon! Wenn es so weiterging, würde er bald auf dem Boden herumkriechen mit einer Lupe in der Hand und den Teppich absuchen!
»Trinkt Studer«, sagte Äschbacher und schob das frischgefüllte Glas über den Tisch. Und der Wachtmeister leerte es gehorsam.
Es war doch eine Schweinerei, träumte er weiter. Da hatte man ein Gehalt von ein paar hundert Franken im Monat, es langte wohl, es langte ganz gut. Und für das lumpige Gehalt war man verpflichtet, den Kanalräumer zu spielen. Ärger als das. Man musste schnüffeln, anderer Leute Missetaten aufdecken, man musste sich überall hineinmischen, keinen Augenblick hatte man Ruhe, nicht einmal pflegen konnte man sich, wenn man krank war.
Äschbacher sog hocherfreut an seinem Stumpen. Seine kleinen Äuglein glänzten boshaft, schadenfroh.
Und da tauchte in Studer plötzlich wieder der Traum jener Nacht auf. Der riesige Daumenabdruck auf der Tafel, der Lehrer Schwomm im weißen Kittel und Äschbacher, der den Arm um Sonja geschlungen hatte und ihn, Studer, auslachte.
Später hätte Studer nie sagen können, ob es wirklich die Erinnerung an diesen Traum war, die ihm plötzlich neuen Mut gab. Oder ob ihm das höhnische Grinsen Äschbachers auf die Nerven fiel. Genug, er raffte sich auf, legte die Unterarme auf seine gespreizten Schenkel, faltete die Hände und blickte zu Boden. Er sprach langsam, denn er fühlte, dass seine Zunge große Lust zeigte, eigene Wege zu gehen.
»Gut«, sagte er, »Ihr habt recht. Ich werde mich blamieren. Aber das steht nicht in Frage, Äschbacher. Ich tue meine Arbeit, die Arbeit, für die ich bezahlt bin. Ich bin dafür bezahlt, Untersuchungen zu führen. Man hat mich darauf vereidigt, dass ich die Wahrheit sage. Ich weiß, Ihr werdet lachen, Äschbacher. Wahrheit! Ich bin auch nicht von heute. Ich weiß auch ganz genau, dass die Wahrheit, die ich finde, nicht die wirkliche Wahrheit ist. Aber ich kenne sehr gut die Lüge. Wenn ich die Sache aufgebe und der Schlumpf wird frei, und das Gericht legt den Fall zu den Akten, wie man sagt, dann ist alles ganz gut und schön. Und schließlich bin ich kein Richter und Ihr müsst mit Eurer Tat allein fertigwerden.« Immer langsamer sprach Studer. Er sah nicht auf, er wollte den Blicken Äschbachers nicht begegnen, verzweifelt starrte er auf ein kleines Muster im Teppich: ein schwarzes Rechteck, das von roten Fäden durchzogen war und das ihn, weiß der Himmel warum, an Witschis Hinterkopf erinnerte. Genauer: an die spärlichen Haare, durch die sich Blutfäden zogen.
»Allein fertigwerden, das ist es. Und ich weiß nicht, ob Ihr das könnt. Ihr spielt gerne, Äschbacher, spielt mit Menschen, spielt an der Börse, spielt mit Politik. Ich habe manches über Euch gehört. Ich würd’ Euch gern laufen lassen… Aber da ist die Geschichte mit der Sonja. Lueget, Äschbacher, die Sonja! Das Meitschi hat’s nicht schön gehabt. Ihr habt es einmal auf die Knie genommen, der Vater ist dann dazu gekommen… Hat der Wendelin Witschi damals wirklich unrecht gehabt mit seiner Behauptung? Nein, schweigt jetzt. Ihr könnt nachher reden. Ihr müsst nicht meinen, ich sei ein Stündeler. Ich versteh auch Spaß, Äschbacher; aber irgendwo muss der Spaß aufhören. Ihr habt vieles auf dem Gewissen, nicht nur den Wendelin Witschi. Und ich möcht nicht, dass Ihr auch die Sonja auf dem Gewissen habt. Versteht Ihr?«
Die Wolken draußen sanken immer tiefer, es wurde düster im Zimmer. Äschbacher saß vergraben in seinem Stuhl, Studer konnte nur seine Knie sehen. Ein heiseres Krächzen war hörbar, man wusste nicht, war es ein Räuspern oder ein unterdrücktes Lachen.
»Was er sonst noch von Euch gewusst hat, der Wendelin Witschi, hab’ ich nicht erfahren…« Das Reden ging jetzt leichter. Aber immer noch sprach Studer langsam, und was das Merkwürdigste war, es war wie eine Spaltung seiner Persönlichkeit: er sah das Zimmer von oben, sah sich selbst, nach vorne gebeugt, mit gefalteten Händen, im Stuhle sitzen und dachte dabei: »Studer, du siehst sicher aus, wie ein Pfarrer, wenn er eine Kondolenzvisite macht.« Aber auch das verging wieder, und er sah plötzlich das Zimmer des Untersuchungsrichters und den Schlumpf, der seinen Kopf auf den Schoß des Mädchens gelegt hatte.
»Wenn’s darauf ankommt«, sagte Studer, »wird auch das noch zu ermitteln sein. Ich habe mir sagen lassen, dass Ihr mit Mündelgeldern spekuliert habt, Äschbacher; Ihr seid doch hier in der Vormundschaftsbehörde… und dass Ihr das Geld wieder zurückgezahlt habt, aber, dass der Witschi davon gewusst hat. Er ist doch mit Euch in der Fürsorgekommission gesessen? Oder? Ihr braucht nicht zu antworten. Ich erzähl’ Euch das nur, damit Ihr den Studer nicht für einen Löli haltet. Der Wachtmeister Studer weiß auch einiges…«
Schweigen. Studer stand auf, aber immer noch ohne auf Äschbacher zu schauen, griff nach einer Flasche, schenkte sich ein, leerte das scharfe Zeug, setzte sich wieder und zog eine Brissago aus dem Etui. Merkwürdig, aber sie schmeckte. Sein Herz machte zwar noch immer Seitensprünge; – aber, dachte er, heut’ nachmittag werd’ ich ins Spital fahren. Dort hat man Ruhe.
»Soll