Es war der 28. September. Ein Dienstag.«
Pater Matthias schwieg, bedeckte seine Augen mit der Hand und fuhr fort:
»Collani kommt. Ich spreche zu ihm, wie es meine Pflicht ist als Priester, beschwöre ihn, die teuflischen Experimente zu lassen. Er bleibt trotzig. Und plötzlich wird sein Blick wieder leer, die Oberlider verdecken halb die Augen, ein unangenehm höhnisches Lächeln zerrt seine Lippen auseinander, sodass ich seine breiten, gelben Zähne sehe, und dann sagt er mit jener Stimme, die mir so bekannt vorkommt: ›Hallo, Matthias, wie geht’s dir?‹ – Es war die Stimme meines Bruders, meines Bruders, der vor fünfzehn Jahren den Tod gefunden hatte!«
Die drei Männer um den Tisch in der kleinen Beize bei den Pariser Markthallen nahmen diese Mitteilung schweigsam entgegen. Kommissär Madelin lächelte schwach, wie man nach einem schlechten Witz lächelt. Studers Schnurrbart zitterte, und die Ursache dieses Zitterns war nicht recht festzustellen… Nur Godofrey bemühte sich, die peinliche Unwahrscheinlichkeit der Erzählung etwas zu mildern. Er sagte:
»Immer wieder zwingt uns das Leben, mit Gespenstern Umgang zu pflegen…«
Das konnte tiefsinnig sein. Pater Matthias sagte sehr leise:
»Die fremde und doch so vertraute Stimme redete aus dem Munde des Hellseherkorporals zu mir…«
Studers Schnurrbart hörte auf zu zittern, er beugte sich über den Tisch… Die Betonung des letzten Satzes! Sie klang unecht, übertrieben, gespielt! Der Berner Wachtmeister blickte zu Madelin hinüber. Das knochige Gesicht des Franzosen war ein wenig verzerrt. Also hatte auch der Kommissär den Misston empfunden! Er hob die Hand, legte sie sanft auf den Tisch: »Reden lassen! Nicht unterbrechen!« Und Studer nickte. Er hatte verstanden…
»›Hallo, Matthias! Kennst du mich noch? Hast du gemeint, ich sei tot? Springlebendig bin ich…‹ Und da bemerkte ich zum ersten Male, dass Collani Deutsch redete! – ›Matthias, beeil dich, wenn du die alten Frauen retten willst. Sonst komm’ ich sie holen. Sie werden in…‹ Da ging die Stimme, die doch nicht Collanis Stimme war, in ein Flüstern über, sodass ich die nächsten Worte nicht verstand. Und dann wieder, laut und deutlich vernehmbar: ›Hörst du es pfeifen? Es pfeift und dies Pfeifen bedeutet den Tod.
Fünfzehn Jahre hab’ ich gewartet! Zuerst die in Basel, dann die in Bern! Die eine war klug, sie hat mich durchschaut, die spar’ ich mir auf. Die andere hat meine Tochter schlecht erzogen. Dafür muss sie gestraft werden.‹ Ein Lachen und dann schwieg die Stimme. Diesmal war Collanis Schlaf so tief, dass ich Mühe hatte, den Mann zu wecken…
Endlich klappen seine Lider ganz auf, er sieht mich an, erstaunt. Da frage ich den Hellseherkorporal: ›Weißt du, was du mir erzählt hast, mein Sohn?‹ – Zuerst schüttelt Collani den Kopf, dann erwidert er: ›Ich sah einen Mann, den ich in Fez gepflegt hatte vor fünfzehn Jahren. Er ist gestorben, damals, an einem bösen Fieber… Im Jahre siebenzehn, während des Weltkrieges… Dann sah ich zwei Frauen. Die eine hatte eine Warze neben dem linken Nasenflügel… Der Mann damals in Fez – wie hieß er? Wie hieß er nur?‹ – Collani reibt sich die Stirne, er findet den Namen nicht, ich helfe ihm auch nicht – ›der Mann in Fez hat mir einen Brief gegeben. Den soll ich abschicken, nach fünfzehn Jahren. Ich hab’ ihn abgeschickt. An seinem Todestag. Am 20. Juli. Der Brief ist fort, ja er ist fort!‹, schreit er plötzlich. ›Ich will mit der Sache nichts mehr zu tun haben! Es ist unerträglich. Jawohl!‹, schreit er noch lauter, als antworte er dem Vorwurf eines Unsichtbaren. ›Ich habe eine Kopie behalten. Was soll ich mit der Kopie tun?‹ – Der Hellseherkorporal ringt die Hände. Ich beruhige ihn: ›Bring mir die Abschrift des Briefes, mein Sohn. Dann wird dein Gewissen entlastet sein. Geh! Jetzt gleich!‹ – ›Ja, mein Vater‹, sagt Collani, steht auf und geht zur Türe. Ich höre noch die Nägel seiner Sohlen auf dem Stein vor meiner Haustüre kreischen…
Und dann hab’ ich ihn nie mehr gesehen! Er verschwand aus Géryville. Man nahm an, Collani sei desertiert. Der Fall wurde auf Befehl des Bataillonskommandanten untersucht. Man fand heraus, dass am gleichen Abend ein Fremder in einem Auto nach Géryville gekommen und in der gleichen Nacht wieder abgefahren war. Vielleicht hat er den Hellseherkorporal mitgenommen…«
Pater Matthias schwieg. Im kleinen Raum war einzig das Schnarchen des dicken Wirtes zu hören und dazwischen, ganz leise, das Ticken einer Wanduhr…
Der Weiße Vater nahm die Hand vom Gesicht. Seine Augen waren leicht gerötet, und noch immer gemahnte ihre Farbe an das Meer – aber nun lagen Nebelschwaden über den Wassern und verbargen die Sonne. Der alte Mann, der aussah wie der Schneider Meckmeck, musterte seine Zuhörer.
Es war ein schwieriges Unterfangen, drei mit allen Wassern gewaschenen Kriminalisten eine Gespenstergeschichte zu erzählen. Sie ließen ein langes Schweigen walten, dann klopfte der eine, Madelin, mit der flachen Hand auf den Tisch. Der Wirt fuhr auf.
»Vier Gläser!«, befahl der Kommissär. Er füllte sie mit Rum, sagte trocken: »Eine kleine Stärkung wird Ihnen guttun, mein Vater.« Und Pater Matthias leerte gehorsam sein Glas. Studer zog ein längliches Lederetui aus der Busentasche, stellte betrübt fest, dass ihm nur noch eine Brissago verblieb, zündete sie umständlich an und gab auch Madelin Feuer, der eine Pfeife gestopft hatte. Mit dieser gab der Kommissär seinem Schweizer Kollegen einen Wink, eine kleine Aufforderung, mit dem fälligen Verhör zu beginnen.
Studer rückte nun ebenfalls vom Tisch ab, legte die Ellbogen auf die Schenkel, faltete die Hände und begann zu fragen, langsam und bedächtig, während seine Augen gesenkt blieben.
»Zwei Frauen? Ihr Bruder hat sich wohl nicht der Bigamie schuldig gemacht?«
»Nein«, sagte Pater Matthias. »Er ließ sich scheiden von der ersten Frau und heiratete dann ihre Schwester Josepha.«
»So so. Scheiden?«, wiederholte Studer. »Ich dachte, das gäbe es nicht in der katholischen Religion.« Er hob die Augen und sah, dass Pater Matthias rot geworden war. Von der sehr hohen Stirne rollte eine Blutwelle über das braungebrannte Gesicht – nachher blieb die Haut merkwürdig grau gefleckt.
»Ich bin mit achtzehn Jahren zur katholischen Religion übergetreten«, sagte Pater Matthias leise. »Daraufhin wurde ich von meiner Familie verstoßen.«
»Was war Ihr Bruder?«, fragte Studer weiter.
»Geologe. Er schürfte im Süden