»Armer Kerl!« sagte Dr. Neuenschwander. Er ging einen Nachbarn holen. Zu zweit trugen sie Studer ins Gastzimmer, zogen ihn aus und deckten ihn ordentlich zu. Neuenschwander füllte noch eine Bettflasche mit heißem Wasser, legte sie an Studers Füße, die eiskalt waren. Er ließ die Zimmertüre offen und ging zurück an seinen Schreibtisch. Dort las er bis gegen ein Uhr. Alle Stunden sah er nach dem Wachtmeister. Der musste schwere Träume haben. Er murmelte oft, fast immer die gleichen Worte:
›Mikroskop‹, war zu verstehen, ›Daumenabdruck‹. Und noch ein Mädchenname. ›Sonja‹.
Um vier Uhr stand Dr. Neuenschwander noch einmal auf. Studers Temperatur war auf siebenunddreißig gefallen.
Der Fall Wendelin Witschi zum letzten Mal
Ein trübes Begräbnis.
Natürlich regnete es wieder. Im Lättboden des Friedhofs füllten sich die Fußstapfen, kaum dass man den Schuh aus der zähen Erde gezogen hatte, mit gelbem Wasser. Wendelin Witschis Grab war nur von zehn Regenschirmen umstanden, und die Tropfen, die auf die zehn gespannten schwarzen Tücher fielen, trommelten einen leisen, traurigen Wirbel.
Der Pfarrer machte es kurz. Sonja schluchzte. Frau Witschi stand aufrecht neben ihrer Tochter. Sie weinte nicht. Armin war nicht gekommen. Nach dem Pfarrer sprach der Gemeindepräsident Äschbacher ein paar Worte. Sie machten ihm sichtlich Mühe.
Studer stand neben Dr. Neuenschwander und war froh, dass er sich auf den Arm des Arztes stützen konnte. Aber als nun alle langsam auf das Friedhofstor zuschritten, machte sich Studer von seinem Begleiter los, holte den Gemeindepräsidenten ein und sagte:
»Herr Gemeindepräsident, ich sollt’ mit Euch reden.«
»Mit mir, Wachtmeister?«
»Ja«, sagte Studer.
»So kommt!«
Äschbachers Auto stand auf der Straße. Der Gemeindepräsident öffnete den Schlag, zwängte sich auf den Sitz vor das Steuerrad, winkte Studer. Der Wachtmeister stieg ein. Er schüttelte dem Arzte zum Abschied die Hand, dann schlug er selbst den Schlag zu.
Es war wenig Platz vorhanden, denn beide waren sie nicht gerade mager. Äschbacher drückte auf den Anlasser. Studer starrte auf die Tasche, die am Wagenschlag angebracht war.
Äschbacher schwieg. Das Auto kehrte, fuhr ins Dorf zurück, fuhr vorbei an den vielen, vielen Ladenschildern. Gerzenstein, das Dorf der Läden und Lautsprecher! – Wann hatte Studer das Dorf so genannt? War das lange her? Am Samstag. Und heute war Dienstag. Zwei Tage nur lagen dazwischen!
Die Lautsprecher waren nicht zu hören. Entweder war es noch zu früh, oder der Lärm des Autos übertönte ihre Musik, ihre Reden.
Das Dorf Gerzenstein! Ein Dorf? Wo waren die Bauern in diesem Dorfe? Man sah nichts von ihnen. Sie wohnten wohl hinter der Fassade der Läden, irgendwo, in den Hintergründen.
Äschbacher schnaufte. Den Mann musste viel bedrücken.
Und während der Wagen in die Bahnhofstraße einbog, auf dem kleinen Stück Weges, der von der Hauptstraße bis zur Druckerei des ›Gerzensteiner Anzeigers‹ führte, erlebte Studer noch einmal den gestrigen Abend.
Der Cottereau, der sich endlich entschlossen hatte zu sprechen. Der Cottereau, der gesehen hatte, wie Äschbacher den Browning in eine jener Taschen versorgt hatte, die an den Türen der Autos angebracht sind. Cottereau erinnerte sich gut. Er war an jenem Abend spazierengegangen, an jenem Dienstagabend. Übrigens hatte er alle Personen des Dramas gesehen, den Lehrer Schwomm, der mit einer Schülerin aus der dritten Sekundarschulklasse spazierengegangen war (darum das verdächtige Schweigen des Lehrers!), den Wendelin Witschi, der von seinem ›Zehnderli‹ abgestiegen und im Wald verschwunden war, er hatte Äschbachers Auto wiedererkannt, er hatte den Gemeindepräsidenten gesehen, wie er Witschi gefolgt war…
»Ich glaube, wir gehen zu mir in die Wohnung«, sagte Äschbacher. Das Auto stand still vor einem eisernen Tor, dessen Spitzen vergoldet waren. Da war die Bogenlampe mit den steifen, roten Blumen um ihren Sockel, dort war der Bahnhof mit dem Kiosk, in dem sonst Anastasia Witschi Romane las, während sie auf Kunden wartete. Frau Anastasia Witschi, die mit dem Gemeindepräsidenten verwandt war…
Und als sie damals erfahren hatte, dass ihr Mann tot war, was hatte sie da gesagt?
»Zweiundzwanzig Jahre!«
Und war im Zimmer hin und hergelaufen.
»Wie Ihr wollt«, sagte Studer auf die Frage Äschbachers, die eigentlich gar keine Frage, sondern eine Aufforderung gewesen war. Der Wachtmeister betrachtete den dicken Mann unauffällig von der Seite.
Büros. Mädchen saßen vor Schreibmaschinen und begannen wie wild auf die Tasten loszuhämmern, als Äschbacher in der Tür auftauchte.
»Guten Tag, Herr Direktor, grüß-ech, Herr Gemeindepräsident…«
Ein alter Mann, fast ein Zwerg, trat Äschbacher in den Weg. Er hielt Druckbogen in der Hand. Der Zeigefinger, mit dem er den Linien des Gedruckten folgte, während er eifrig auf Äschbacher einsprach, hatte eine verkrüppelte Spitze. Studer sah dies alles überdeutlich. Dabei fühlte er sich recht elend. Es war ihm, als bestünden seine Beine aus zusammengenähten Flanellappen, und als seien sie mit Sägespänen gefüllt.
Auf die weitschweifigen Bemerkungen des weißen Zwerges antwortete Äschbacher nur zerstreut. Er drängte vorwärts, weiter, weiter. Den Hut hatte er abgenommen, die braune Locke klebte noch immer auf seiner Stirn.
Eine kleine Türe. Das Stiegenhaus. Im ersten Stock die Wohnungstür. Neben der Tür ein Messingschild, darauf in schwarzen Buchstaben: Äschbacher. Kein Vorname, kein Titel, nichts. Es passte zu dem Manne.
»Tretet ein, Wachtmeister«, sagte der