Wachtmeister Studer. Friedrich C. Glauser. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Friedrich C. Glauser
Издательство: Bookwire
Серия: Gesammelte Werke bei Null Papier
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783962816315
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die Leu­te doch mer­ken, dass er sich er­schos­sen hat. Das geht doch in Ro­ma­nen, aber nicht in der Wirk­lich­keit!‹ Hab’ ich da nicht recht ge­habt, Herr Wacht­meis­ter?«

      »Hm, viel­leicht, ja…«, mur­mel­te Stu­der und be­schäf­tig­te sich eif­rig mit dem ein­ge­spann­ten Fo­lio­blatt. Die Li­ni­en wa­ren schief.

      »Das hab’ ich dem Ar­min auch ge­sagt, und ob er es hat übers Herz brin­gen kön­nen, dass sich der Va­ter für uns um­bringt, hab’ ich ihn ge­frag­t… Da sag­te er, sie hät­ten mit dem Va­ter aus­ge­macht, er sol­le sich nur an­schie­ßen, sich eine schwe­re Ver­let­zung bei­brin­gen, dann be­käme er auch die Ver­si­che­rung für Gan­zin­va­li­di­tät – sich ins Bein schie­ßen zum Bei­spiel, sag­te der Bru­der, aber so, dass das Bein am­pu­tiert wer­den müs­se… Das hat er ge­sagt, der Bru­der…«

      »Ver­rückt, idio­tisch, hirn­ver­brannt!« flüs­ter­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter, streck­te die Arme aus, dass die Är­mel sei­nes Rockes fast bis zu den Ell­bo­gen rutsch­ten, fuch­tel­te mit den Hän­den in der Luft her­um. »Das ist ja… Was sa­gen Sie dazu, Stu­der?…«

      »Lo­card, Dok­tor Lo­card in Lyon, Sie wis­sen, wen ich mei­ne, Herr Un­ter­su­chungs­rich­ter, schreibt in ei­nem sei­ner Bü­cher – (und mein Freund, der Kom­mis­sär Ma­de­lin, zi­tier­te die­sen Auss­pruch mit Vor­lie­be) – es sei ein Irr­tum, zu glau­ben, es gebe nor­ma­le Men­schen. Alle Men­schen sei­en min­des­tens Halb­ver­rück­te und die­se Tat­sa­che dür­fe man in kei­ner Un­ter­su­chung ver­ges­sen… Erin­nern Sie sich viel­leicht an den Fall je­nes ös­ter­rei­chi­schen Zahn­tech­ni­kers, der sein Bein auf einen Spalt­klotz leg­te und es mit ei­ner Axt be­ar­bei­te­te, bis es nur noch an ei­nem Fet­zen hing – nur um eine sehr hohe Un­fall­ver­si­che­rung ein­zu­kas­sie­ren…? Es gab da­mals einen großen Pro­zess…«

      »Ja, ja«, sag­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter. »In Ös­ter­reich! Aber wir sind doch in der Schweiz!«

      »Die Men­schen sind über­all gleich«, seufz­te Stu­der. »Was soll ich schrei­ben?«

      Sto­ckend dik­tier­te der Un­ter­su­chungs­rich­ter, aber sei­ne Sät­ze ver­filz­ten sich der­art, dass Stu­der Mühe hat­te, die­se Syn­tax zu ent­wir­ren…

      »Wei­ter, wei­ter! Fräu­lein Wit­schi!« Der Un­ter­su­chungs­rich­ter wisch­te sich die Stirn mit ei­nem klei­nen far­bi­gen Ta­schen­tuch, ein Duft von La­ven­del schweb­te durch den Raum…

      Son­ja war ver­schüch­tert. Sie hat­te nicht ver­stan­den, was da ver­han­delt wur­de. Ver­rückt? dach­te sie, warum ver­rückt? Wenn wir doch das Geld so not­wen­dig ge­braucht ha­ben!… Und dann er­zähl­te sie wei­ter:

      »Da fragt die Mut­ter ganz kalt: ›Wo sitzt der Schuss?‹ – Und der Ar­min ant­wor­tet ge­nau so kalt: ›Hin­ter dem rech­ten Ohr.‹ Da nickt die Mut­ter, wie an­er­ken­nend: ›Das hat er gut ge­macht, der Va­ter.‹ Aber dann war’s vor­bei mit ih­rer Ruhe. Ich hab’ die Mut­ter nie wei­nen se­hen, auch da­mals nicht, als wir das gan­ze Geld ver­lo­ren hat­ten. Sie hat im­mer nur ge­schimpft. Aber jetzt leg­te sie den Kopf auf den Tisch und ihre Schul­tern zuck­ten. ›A­ber Mut­ter!‹ sagt der Ar­min. ›Es ist doch bes­ser so!‹ – Da wird die Mut­ter bös, springt auf, läuft im Zim­mer hin und her und sagt nur im­mer: ›Zwei­und­zwan­zig Jah­re! Zwei­und­zwan­zig Jah­re!‹«

      Man fühl­te es, Son­ja er­leb­te die gan­ze Sze­ne noch ein­mal, sie sah al­les vor sich. Ihre Li­der wa­ren ge­senkt. – Lan­ge Wim­pern hat­te das Mäd­chen…

      Stu­der träum­te vor sich hin… Also war das Bild, das er sich ge­macht hat­te, da­mals, als er die Mut­ter Wit­schi be­sucht hat­te, doch falsch ge­we­sen… Er hat­te den Tisch ge­se­hen, die Leu­te dar­um: Ana­sta­sia Wit­schi re­det auf ih­ren Mann ein, er sol­le kein Feig­ling sein… Ge­wiss, das war si­cher al­les so ge­we­sen. Er hat­te nur einen Men­schen zu viel am Tisch ge­se­hen: Son­ja.

      Son­ja wuss­te von nichts, man hat­te ihr nichts er­zählt, bis man sie vor eine vollen­de­te Tat­sa­che hat­te stel­len kön­nen… Und auch dann hät­te sie sich viel­leicht ge­wei­gert, wenn… wenn nicht die Ro­ma­ne ge­we­sen wä­ren:

      ›Un­schul­dig schul­dig‹ hieß ei­ner – Leu­te wie der Un­ter­su­chungs­rich­ter hat­ten kein Ver­ständ­nis für der­ar­ti­ge Kom­pli­ziert­hei­ten.

      Kom­pli­ziert­hei­ten?…

      Ein­fach war es! Über­wäl­ti­gend ein­fach!

      Aber es schi­en, dass ein ein­fa­cher Fahn­der sol­che Kom­pli­ziert­hei­ten bes­ser ver­stand als ein Stu­dier­ter… Son­ja war zur Ge­gen­par­tei über­ge­gan­gen… Merk­wür­dig, es hat­te da­mit be­gon­nen, dass der Wacht­meis­ter dem Mäd­chen die Trä­nen ge­trock­net hat­te… Sol­che Din­ge wa­ren zart wie die Fä­den, die im Alt­wei­ber­som­mer durch die Luft flie­gen; nach­den­ken durf­te man über sie, aber von ih­nen spre­chen? Si­cher, wenn man sol­ches aus­sprach, be­kam man das Zi­tat von Lo­card an den Kopf ge­schmis­sen… Mit Recht! Mit Recht!…

      Merk­wür­dig, wie Stim­men sich ver­än­dern konn­ten! Son­jas Stim­me war tief und ein we­nig hei­ser, als sie wei­ter er­zähl­te:

      »Da sagt der Bru­der: ›Du stehst ja gut mit dem Schlumpf. Ihr wollt euch ja so­gar hei­ra­ten. Jetzt kann er zei­gen, ob er dich wirk­lich gern hat. Du sagst ihm mor­gen, dass er sich ver­däch­tig ma­chen muss. Es muss so aus­se­hen, als ob er den Mord be­gan­gen hät­te… Bis wir die Ver­si­che­run­gen aus­be­zahlt be­kom­men ha­ben… Dann wer­den wir schon se­hen, dass wir ihn frei be­kom­men.‹ Ich hab’ mich zu­erst ge­wei­gert, aber nicht lan­ge. Ich war ja so dumm. Ich hab’ zu viel Ro­ma­ne ge­le­sen. Und in den Ro­ma­nen, da kommt ja im­mer vor, dass ei­ner sich für eine Frau op­fert, frei­wil­lig ins Ge­fäng­nis geht, um sie nicht zu ver­ra­ten. Wir ha­ben dann noch al­les be­spro­chen. Ich soll­te den Schlumpf am nächs­ten Abend auf­su­chen, ihm die drei­hun­dert Fran­ken ge­ben, dann soll­te er in den ›Bä­ren‹ und dort et­was trin­ken und eine Hun­der­ter­no­te wech­seln. Der Bru­der hat dann dem Mur­mann an­ge­läu­tet…«

      Das Te­le­fon, von dem Mur­mann ge­spro­chen hat­te! Die un­be­kann­te männ­li­che Stim­me! Es war wirk­lich al­les kon­stru­iert wie in ei­nem Ro­man… Man müss­te noch mit dem Ar­min re­den… Und wel­che Rol­le spiel­te der Coif­feur­ge­hil­fe in der gan­zen An­ge­le­gen­heit? Ger­ber hat­te ein Mo­tor­rad; ob er wohl auch ein Auto len­ken konn­te? Si­cher! Man müss­te wis­sen, was Cot­te­reau, der Ober­gärt­ner, beim al­ten El­len­ber­ger ge­se­hen hat­te, um von ein paar Bur­schen so übel be­han­delt zu wer­den… Stu­der ge­riet mehr und mehr ins Träu­men. – Der alte El­len­ber­ger hat­te eine Waf­fe ge­kauf­t… Vi­el­leicht doch zwei Schüs­se? Hat­te je­mand beim Selbst­mord nach­ge­hol­fen?… Vi­el­leicht Wit­schis Arm ge­hal­ten?… Oder hat­te Wit­schi da­ne­ben ge­schos­sen, und ein an­de­rer…

      »Wa­rum hast du dem Coif­feur­ge­hil­fen ei­gent­lich den Füll­fe­der­hal­ter ge­schenkt?« frag­te Stu­der in die Stil­le. Und da­bei sah er den Ger­ber vor sich mit sei­nen all­zu ro­ten Lip­pen und mit sei­nem Man­tel, der blaue Auf­schlä­ge trug.

      »Er hat uns da­mals in der Nacht zu­sam­men ge­se­hen, den Schlumpf und mich«, sag­te Son­ja lei­se. »Und er hat ge­droht, er er­zäh­le es dem Statt­hal­ter, dass der Schlumpf un­schul­dig