»Hm, vielleicht, ja…«, murmelte Studer und beschäftigte sich eifrig mit dem eingespannten Folioblatt. Die Linien waren schief.
»Das hab’ ich dem Armin auch gesagt, und ob er es hat übers Herz bringen können, dass sich der Vater für uns umbringt, hab’ ich ihn gefragt… Da sagte er, sie hätten mit dem Vater ausgemacht, er solle sich nur anschießen, sich eine schwere Verletzung beibringen, dann bekäme er auch die Versicherung für Ganzinvalidität – sich ins Bein schießen zum Beispiel, sagte der Bruder, aber so, dass das Bein amputiert werden müsse… Das hat er gesagt, der Bruder…«
»Verrückt, idiotisch, hirnverbrannt!« flüsterte der Untersuchungsrichter, streckte die Arme aus, dass die Ärmel seines Rockes fast bis zu den Ellbogen rutschten, fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. »Das ist ja… Was sagen Sie dazu, Studer?…«
»Locard, Doktor Locard in Lyon, Sie wissen, wen ich meine, Herr Untersuchungsrichter, schreibt in einem seiner Bücher – (und mein Freund, der Kommissär Madelin, zitierte diesen Ausspruch mit Vorliebe) – es sei ein Irrtum, zu glauben, es gebe normale Menschen. Alle Menschen seien mindestens Halbverrückte und diese Tatsache dürfe man in keiner Untersuchung vergessen… Erinnern Sie sich vielleicht an den Fall jenes österreichischen Zahntechnikers, der sein Bein auf einen Spaltklotz legte und es mit einer Axt bearbeitete, bis es nur noch an einem Fetzen hing – nur um eine sehr hohe Unfallversicherung einzukassieren…? Es gab damals einen großen Prozess…«
»Ja, ja«, sagte der Untersuchungsrichter. »In Österreich! Aber wir sind doch in der Schweiz!«
»Die Menschen sind überall gleich«, seufzte Studer. »Was soll ich schreiben?«
Stockend diktierte der Untersuchungsrichter, aber seine Sätze verfilzten sich derart, dass Studer Mühe hatte, diese Syntax zu entwirren…
»Weiter, weiter! Fräulein Witschi!« Der Untersuchungsrichter wischte sich die Stirn mit einem kleinen farbigen Taschentuch, ein Duft von Lavendel schwebte durch den Raum…
Sonja war verschüchtert. Sie hatte nicht verstanden, was da verhandelt wurde. Verrückt? dachte sie, warum verrückt? Wenn wir doch das Geld so notwendig gebraucht haben!… Und dann erzählte sie weiter:
»Da fragt die Mutter ganz kalt: ›Wo sitzt der Schuss?‹ – Und der Armin antwortet genau so kalt: ›Hinter dem rechten Ohr.‹ Da nickt die Mutter, wie anerkennend: ›Das hat er gut gemacht, der Vater.‹ Aber dann war’s vorbei mit ihrer Ruhe. Ich hab’ die Mutter nie weinen sehen, auch damals nicht, als wir das ganze Geld verloren hatten. Sie hat immer nur geschimpft. Aber jetzt legte sie den Kopf auf den Tisch und ihre Schultern zuckten. ›Aber Mutter!‹ sagt der Armin. ›Es ist doch besser so!‹ – Da wird die Mutter bös, springt auf, läuft im Zimmer hin und her und sagt nur immer: ›Zweiundzwanzig Jahre! Zweiundzwanzig Jahre!‹«
Man fühlte es, Sonja erlebte die ganze Szene noch einmal, sie sah alles vor sich. Ihre Lider waren gesenkt. – Lange Wimpern hatte das Mädchen…
Studer träumte vor sich hin… Also war das Bild, das er sich gemacht hatte, damals, als er die Mutter Witschi besucht hatte, doch falsch gewesen… Er hatte den Tisch gesehen, die Leute darum: Anastasia Witschi redet auf ihren Mann ein, er solle kein Feigling sein… Gewiss, das war sicher alles so gewesen. Er hatte nur einen Menschen zu viel am Tisch gesehen: Sonja.
Sonja wusste von nichts, man hatte ihr nichts erzählt, bis man sie vor eine vollendete Tatsache hatte stellen können… Und auch dann hätte sie sich vielleicht geweigert, wenn… wenn nicht die Romane gewesen wären:
›Unschuldig schuldig‹ hieß einer – Leute wie der Untersuchungsrichter hatten kein Verständnis für derartige Kompliziertheiten.
Kompliziertheiten?…
Einfach war es! Überwältigend einfach!
Aber es schien, dass ein einfacher Fahnder solche Kompliziertheiten besser verstand als ein Studierter… Sonja war zur Gegenpartei übergegangen… Merkwürdig, es hatte damit begonnen, dass der Wachtmeister dem Mädchen die Tränen getrocknet hatte… Solche Dinge waren zart wie die Fäden, die im Altweibersommer durch die Luft fliegen; nachdenken durfte man über sie, aber von ihnen sprechen? Sicher, wenn man solches aussprach, bekam man das Zitat von Locard an den Kopf geschmissen… Mit Recht! Mit Recht!…
Merkwürdig, wie Stimmen sich verändern konnten! Sonjas Stimme war tief und ein wenig heiser, als sie weiter erzählte:
»Da sagt der Bruder: ›Du stehst ja gut mit dem Schlumpf. Ihr wollt euch ja sogar heiraten. Jetzt kann er zeigen, ob er dich wirklich gern hat. Du sagst ihm morgen, dass er sich verdächtig machen muss. Es muss so aussehen, als ob er den Mord begangen hätte… Bis wir die Versicherungen ausbezahlt bekommen haben… Dann werden wir schon sehen, dass wir ihn frei bekommen.‹ Ich hab’ mich zuerst geweigert, aber nicht lange. Ich war ja so dumm. Ich hab’ zu viel Romane gelesen. Und in den Romanen, da kommt ja immer vor, dass einer sich für eine Frau opfert, freiwillig ins Gefängnis geht, um sie nicht zu verraten. Wir haben dann noch alles besprochen. Ich sollte den Schlumpf am nächsten Abend aufsuchen, ihm die dreihundert Franken geben, dann sollte er in den ›Bären‹ und dort etwas trinken und eine Hunderternote wechseln. Der Bruder hat dann dem Murmann angeläutet…«
Das Telefon, von dem Murmann gesprochen hatte! Die unbekannte männliche Stimme! Es war wirklich alles konstruiert wie in einem Roman… Man müsste noch mit dem Armin reden… Und welche Rolle spielte der Coiffeurgehilfe in der ganzen Angelegenheit? Gerber hatte ein Motorrad; ob er wohl auch ein Auto lenken konnte? Sicher! Man müsste wissen, was Cottereau, der Obergärtner, beim alten Ellenberger gesehen hatte, um von ein paar Burschen so übel behandelt zu werden… Studer geriet mehr und mehr ins Träumen. – Der alte Ellenberger hatte eine Waffe gekauft… Vielleicht doch zwei Schüsse? Hatte jemand beim Selbstmord nachgeholfen?… Vielleicht Witschis Arm gehalten?… Oder hatte Witschi daneben geschossen, und ein anderer…
»Warum hast du dem Coiffeurgehilfen eigentlich den Füllfederhalter geschenkt?« fragte Studer in die Stille. Und dabei sah er den Gerber vor sich mit seinen allzu roten Lippen und mit seinem Mantel, der blaue Aufschläge trug.
»Er hat uns damals in der Nacht zusammen gesehen, den Schlumpf und mich«, sagte Sonja leise. »Und er hat gedroht, er erzähle es dem Statthalter, dass der Schlumpf unschuldig