So wurde Annemaries Strumpf am nächsten Tage fertig. Zwar fand Marianne, daß er mehr für Elefantenbeine als für Soldatenfüße geeignet wäre, aber die war sicher nur neidisch, daß sie noch nicht so weit war.
Annemarie aber stand gegen Abend mit Klaus auf dem Bahnhof, um ihr liebes Fräulein, das so viele Jahre für sie gesorgt, zu empfangen.
Fräulein kannte Nesthäkchen kaum wieder. Nein, war das Mädel in dem einen Jahr gewachsen, es war ja nicht viel kleiner als sie selbst. Und kräftig und rosig war das damals so blasse Dingelchen geworden, eine wahre Freude.
Aber zu Hause hatte Fräulein noch viel mehr Gelegenheit, über die Veränderung zu staunen, die mit Doktors Nesthäkchen vorgegangen. Wie ordentlich es im Kinderzimmer aussah, in dem Fräulein immer hatte nachräumen müssen. Und die Schubladen und Schränke, die Fräulein gleich ansehen mußte, waren ebenfalls schön aufgeräumt. Natürlich hatte Annemarie zum Empfang Großreinemachen in den nicht immer so schön aussehenden Kästen abgehalten.
Aber auch zum Haustöchterchen hatte sich Nesthäkchen in den letzten Wochen herausgebildet. Großmama war schon alt, die sollte nicht viel tun. Und die Hanne sorgte wohl für Essen und Trinken, aber daß ein Tisch hübscher aussah, wenn eine Blumenvase darauf stand, das wußte sie nicht. Annemarie aber hatte das im Kinderheim gelernt. Auch die Fußbank brachte sie für die Großmama herbei und fegte nach dem Essen die Krümel von dem Tisch, ohne daß man es sie erst hieß.
Noch eins fiel dem zurückkehrenden Fräulein erfreulicherweise auf – das gute Einvernehmen mit Bruder Klaus. Der große Weltkrieg hatte den Krieg, der stets früher in der Kinderstube zwischen den beiden getobt, ganz beendet. Frieden herrschte mitten im Kriege bei Doktor Brauns Sprößlingen.
Am erstaunlichsten aber war Fräulein, als Annemarie ihr voll Künstlerstolz ihren ersten, selbstgestrickten Strumpf zeigte. Soviel Ausdauer hatte sie dem Wildfang niemals zugetraut. Ja, was der Krieg alles zuwege brachte!
»Wenn ich den zweiten Strumpf fertig habe, dann häkele ich Ohrenklappen für unsere Soldaten, und Leibbinden stricken wir und Kopfschützer. Wir haben nämlich gar keine Schule, Fräulein, bloß Handarbeit bei Fräulein Hering, weil aus unserer Schule ein Lazarett gemacht ist. Und die Großen haben eine Verpflegungsabteilung eingerichtet. Beim Herrn Direktor kochen sie Suppen, und da schmieren und belegen sie auch Stullen für die Soldaten. Und mein Taschengeld, Fräulein, das tue ich alles in unsere Büchse fürs Rote Kreuz. Margot, Ilse und ich, wir sind zu Vertrauensschülerinnen von unserer Klasse gewählt worden, wir sammeln immer alles Geld ein. Und auch Speck und Wurst und Wolle: Großmama und Hanne haben mir auch schon eine Menge geschenkt.«
»Ei, Annemiechen, da muß ich wohl auch etwas stiften«, das gute Fräulein holte aus ihrem Koffer sogleich mehrere Pakete Strickwolle, die sie der beglückten Annemarie für ihre Sammlung überreichte.
»Danke – danke tausendmal, mein geliebtes, goldenes Fräulein. Nun habe ich bloß noch eine einzige Bitte, aber die kann ich nur ins Ohr sagen.«
»Was mag denn das bloß sein?«
»Ich möchte so schrecklich gern wie früher ›du‹ zu Ihnen sagen, Fräulein«, flüsterte Nesthäkchen.
»Aber das ist doch ganz selbstverständlich, Annemie«, lachte Fräulein. Sie hatte es noch gar nicht gemerkt, daß die Kleine eine direkte Anrede bisher vermieden hatte.
Nun erst war Annemaries Freude über Fräuleins Rückkunft ohne jede Einschränkung, denn es hatte ihr doch viel Kopfzerbrechen gemacht, ob Fräulein das vertrauliche Du von früher auch nicht übelnehmen würde. Jetzt würde ihr des Abends auch nicht mehr nach Mutti so bange sein, da Fräulein bei ihr im Zimmer schlief.
Eigentlich waren alle im Hause recht froh über Fräuleins Wiederkehr. Großmama fühlte ein Teil der schweren Verantwortung für die Kinder schwinden, und Hanne dachte: »Wenn die Russen doch nach Berlin kommen sollten, ist wenigstens ein handfestes Frauenzimmer mehr im Hause zur Verteidigung.«
Auch Hans sah in ihr die Erfüllung aller seiner Wünsche, wie abgerissene Knöpfe und geplatzte Nähte, mit denen er Großmama nicht immer kommen mochte. Nur Klaus und Puck blickten trübe in die Zukunft. Beide waren während der Kriegswochen ihre eigenen Wege gegangen. Die von Puck führten zu sämtlichen Sofas der Wohnung, auf denen er es sich in Abwesenheit der Besitzer bequem gemacht hatte. Großmama konnte nicht immer hinterher und ihn herunterjagen. Aber Fräulein würde ihn sicherlich auf den Trab bringen. Ähnliches dachte auch Klaus, der sich nur zu gern auf der Straße herumgetrieben hatte. Alle beide sahen in Fräuleins Erscheinen das Ende ihrer goldenen Freiheit.
5. Kapitel
Nesthäkchen straft Japan
Fräuleins erste Tätigkeit im Hause von Doktor Brauns bestand in dem Nähen von Fahnen. Da wurde eine riesige schwarzweiß-rote Familienflagge verfertigt; außerdem bat aber noch jedes der Kinder um eine eigene Fahne. Hans bemalte die seine mit dem preußischen Adler. Klaus ließ sie sich in den österreichischen Farben schwarz-gelb herstellen, um sie gleich von der Straße aus herauszuerkennen.
Es war aber auch nötig, daß so viele Fahnen fabriziert wurden, denn Sieg über Sieg brachten die herrlichen Augusttage des eisernen Jahres 1914. Ganz Berlin war ein wehendes, wallendes Fahnenmeer. Bei Longwy, Namur und Maubeuge bekamen Belgier, Franzosen und Engländer die deutschen Fäuste zu spüren. Deutsche Unterseeboote wagten sich tollkühn bis an die Ostküste Englands.
Wie stolz war Doktors Nesthäkchen, als es den großen Brüdern erzählen konnte, daß es von Wittdün aus schon mal ein Unterseeboot gesehen habe. Wie horchten die Jungen auf, als Annemarie ihnen die schmale, schwarze Eisenzigarre mit dem kleinen Auslugturm, Periskop genannt, beschrieb, die plötzlich von den Meeresfluten verschlungen zu sein scheint und nun unsichtbar viele Stunden unter Wasser fahren kann.
Aber als Klaus eines Tages ein Extrablatt mit heimbrachte, »Heldentaten der Königin Luise«, da kannte Annemaries Begeisterung keine Grenzen. Ihr Schiff, auf dem sie die Fahrt von Hamburg nach der Insel Amrum gemacht, hatte sich so heldenhaft ausgezeichnet! Gewiß war ihr Freund, der Matrose Willem, der ihr damals das ganze Schiff gezeigt hatte, einer der tapfersten dabei gewesen. Die Ohrenklappen, die Annemarie gerade fertig hatte, bestimmte sie zum Dank für ihn. Zwar hatten sie eine unleugbare Ähnlichkeit mit zwei grauen Mäusen, da Annemarie die Wolle etwas zu fest zusammengezogen hatte, aber der Matrose würde sich doch sicher darüber freuen.
Auch Pfeifentabak kaufte sie von ihrem Taschengeld. Großmama fügte ein Paar Strümpfe und eine Flasche Kognak hinzu, die Brüder Schokolade und Fräulein einen Kopfschützer. Auch Hanne mußte sich auf Nesthäkchens unaufhörliches Betteln von einer niedlichen Rügenwalder Wurst trennen. Das wurde ein feines Paket, und der Brief, den Annemarie dazu schrieb, hätte dem tapferen Matrosen Willem große Freude gemacht, wenn – er ihn überhaupt bekommen hätte. Aber leider erreichten ihn weder Annemaries graue Ohrenmäuse noch sonst etwas von dem schönen Paket. Denn der Matrose Willem schlief bereits auf tiefem Meeresgrunde den ewigen Schlaf.
Während Doktors Nesthäkchen noch ihre Fahne mit einem großen Schild »Königin Luise« vom Balkon wehen ließ, während es auch das Blumenbrett im Kinderzimmer mit lauter kleinen, lustigen Papierfähnchen der »Königin Luise« zu Ehren schmückte, war der neue, prachtvolle Dampfer bei einem weiteren kühnen Vorstoß torpediert worden und ebenso heldenhaft wie er gekämpft mit seiner ganzen Besatzung untergegangen.
Heiße Tränen weinte Annemarie, als sie das Schicksal der »Königin Luise« und ihres Freundes erfuhr. Der Krieg, der ihr bisher eigentlich immer noch mit all seiner Begeisterung, seinen Fahnen und Siegesfeiern