Vor dem roten Ziegelsteingebäude, dem Schubertschen Mädchenlyzeum, das Doktors Nesthäkchen wie ein guter alter Bekannter grüßte, waren eine Menge Schulkinder versammelt. Warum gingen die denn bloß nicht hinein? Es war doch durchaus nicht mehr zu früh! Das summte wie in einem Bienenstock durcheinander. Je näher die Freundinnen kamen, um so auffälliger wurde die Erregtheit der draußen sich zusammenscharenden Schülerinnen.
Am Ende gab es wieder einen Sieg?
»Geht gar nicht erst rein, die Schule fällt aus!« rief ihnen Erna Rust, eine Mitschülerin ihrer Klasse, schon von weitem entgegen.
»Jawoll«, anführen ließ sich Doktors Nesthäkchen nicht so leicht. Stracks ging es Margot, die ein wenig unschlüssig stehen blieb, voran in den Schulhof.
Hier dasselbe Bild wie draußen. Überall lebhaft beratende Schülerinnen. Dazwischen fremde Männer, welche Bänke und Tische schleppten, und jetzt – laut los lachte der Mädchenchor. Da trug ja Professor Möbus, der französische Lehrer, eigenhändig ein Katheder auf dem Rücken. Ja, war denn die ganze Welt aus den Fugen gegangen? Was bedeutete denn das bloß?
»Tag, Margot – Tag, Annemie, fein, daß du wieder da bist – wißt ihr’s schon?« Die beiden Freundinnen Marlene und Ilse stürzten den beiden entgegen. Jede wollte gern die erste sein, welche die Neuigkeit berichtete.
»Was denn – was ist denn bloß los, hat denn die ganze Schule einen Rappel bekommen?« rief Annemarie ziemlich respektlos. Sie brannte vor Neugier.
Aber ehe Marlene oder Ilse noch zur Antwort ansetzen konnten, überschrie sie die dazukommende Marianne: »Unsere Schule wird als Lazarett gebraucht, wir müssen umziehen.«
»Wa–as?« Margot blieb der Mund vor Staunen offen.
Annemarie aber hatte gleich eine Flut von Fragen bei der Hand.
»Sind die Verwundeten schon drin, werden unsere Lehrerinnen nun Schwestern – haben wir nun während des ganzen Krieges keine Schule?«
»Ja, Kuchen – die Schule zieht um«, schrien die Freundinnen wieder durcheinander. »Aber wir wissen noch nicht wohin.«
Nein, war das interessant. Ein Umzug der Schule hatte noch keine der vielen hundert Schülerinnen des Mädchenlyzeums erlebt. Ging man nun einfach nach Hause, oder mußte man noch da bleiben? Keine wußte es, und das erhöhte natürlich die Aufregung.
»Ich gehe ruhig in die Klasse, es hat doch noch kein Lehrer etwas gesagt«, entschied die fleißige Margot.
»Fällt mir nicht im Traume ein, hier auf dem Hof ist es viel lustiger. Und am Ende sind überhaupt schon Soldaten drin«, Doktors Nesthäkchen strahlte über die unvorhergesehenen Ereignisse.
»Militär ist noch nicht da, es muß erst alles umgeräumt werden«, erklärte Marianne Davis eifrig.
»Höchstens könnten wir mit in die Rumpelkammer verladen werden«, lachte Ilschen mit den blonden Haarschnecken.
Da erklang laut die Stimme eines Lehrers durch all den Tumult, all das Mädchengesumm hindurch: »Ruhe – die Schülerinnen sollen sich in die Turnhalle begeben.«
»Wie gut, daß wir nicht nach Hause gegangen sind!« Margot zog ihre Freundin Annemarie den sich in die Turnhalle Drängenden nach.
Die geräumige Turnhalle war knüppeldick vollgestopft mit großen und kleinen Mädchen, blonden und schwarzen. Die sonst streng voneinander gesonderten Klassen waren willkürlich durcheinander gestreut. Wie der Krieg draußen im großen die sonst voneinander geschiedenen Klassen, reich und arm, Gebildete und Ungebildete, durcheinander wirbelte, so tat er es hier auch im kleinen. Auf den langen Schwebebäumen hatten es sich kecke Dingelchen aus der zehnten Klasse bequem gemacht, trotzdem die erste Klasse meinte, diese Plätze kämen ihr zu. Annemarie Braun aber hatte sogar hoch oben auf einem Barren Platz genommen. Von hier aus übersah sie die Versammlung besonders gut. Margot, die sie in ihrer Tugendhaftigkeit durchaus wieder herunterziehen wollte, hatte damit kein Glück, übermütig baumelte Doktors Nesthäkchen auf ihrem Barren mit den in geringelten Wadenstrümpfen steckenden Beinen.
Ein Teil der Lehrer und Lehrerinnen betraten die Halle. Dicht neben Annemarie tauchte Fräulein Herings liebes Gesicht auf.
»Na, wieder da, Annemarie Braun? Das ist ja schön, daß du wieder zu uns zurückkommst. Wie ein kleines Fischermädel so braun bist du gebrannt!« Fräulein Hering trat näher und reichte der so lange Fortgewesenen freundlich die Hand.
Auch Annemarie streckte ihre Rechte aus – o weh – da verlor sie das Gleichgewicht auf ihrer schmalen Stange. In dem Bemühen, nicht herabzupurzeln, griff sie auch mit der Linken hilfesuchend nach dem, was ihr gerade das Nächste war. Mit beiden Armen fiel sie, ohne es zu wollen, der Lehrerin um den Hals. Die lachte herzlich über die zärtliche Begrüßung, und die Mädel ringsum wieherten förmlich vor Vergnügen.
Das war Doktors Nesthäkchen trotz aller Freimütigkeit denn doch etwas peinlich. Aber zum Glück betrat gerade der Direktor die rasch aus Sprungkästen und Matratzen erbaute Kanzel.
Er räusperte sich, aber er sprach noch nicht. Erst stimmte der Gesanglehrer Herr Lustig, zum größten Erstaunen der Kinder in feldgrauer Uniform, mit seiner schönen Baßstimme »Es braust ein Ruf wie Donnerhall« an, und hell fielen die Schülerinnen alle ein. Feierlich zogen die Klänge durch die Turnhalle.
Dann sprach der Herr Direktor, schlicht und warm:
»Meine lieben Schülerinnen! Als wir uns vor etwa fünf Wochen trennten, um nach fleißiger Arbeit neue Kräfte in der Erholung zu sammeln, da ahnten wir nicht, welcher gewaltige Sturm über unser teures Vaterland daherbrausen würde. Die deutsche Eiche ist stark in ihren Wurzeln, ob auch viele feindliche Hände sie zu erschüttern suchen, sie wankt nicht. Nur um so fester steht sie da, nur um so herrlicher wird sie grünen. Jede von euch hat wohl ein liebes Familienmitglied mit hinausziehen lassen in den heiligen Kampf um Deutschlands Freiheit, und ist stolz darauf. Aus unserem Kreise haben sich ebenfalls verschiedene Lehrer gelöst, die ins Feld gezogen, mehrere Lehrerinnen haben sich zu Helferinnen des Roten Kreuzes gemeldet. Aber auch von der Schule selbst verlangt der Krieg seine Opfer. Unsere Räume sind dazu ausersehen worden, den Verwundeten eine Genesungsstätte zu werden. Trotz eifrigen Bemühens ist es mir nur gelungen, vier Arbeiter zum Transport der schweren Möbel zu erlangen, auch einige junge Leute vom Pfadfinderbund haben sich uns zur Verfügung gestellt. Der Hauptanteil der Arbeit aber bleibt Lehrern und Schülerinnen. Ich bin davon überzeugt, wie gern eine jede von euch mithelfen wird für die, welche ihr Blut für uns vergießen. Die Schülerinnen von der zehnten bis zur sechsten Klasse gehen nach Haus. Diejenigen der Schülerinnen der Mittel-und Oberstufen, die uns helfen wollen, begeben sich in ihre Klassenräume und empfangen dort die Anleitungen der Lehrer und Lehrerinnen. Die andern können ebenfalls heimgehen, denn es soll eine freiwillige Hilfe sein, die ihr leistet. Wann wir unsern Schulunterricht wieder aufnehmen können, wird noch bekannt gegeben. Das hängt davon ab, ob wir in einer andern Schule unseres Stadtteils ein Unterkommen finden. Voraussichtlich wird der Unterricht nachmittags stattfinden müssen. Lehrer sowohl wie Schülerinnen werden fürs Vaterland auch diese kleine Unbequemlichkeit gern in den Kauf nehmen. Aber die verlängerte Ferienzeit darf nicht müßig hingebracht werden; mehr als je hat jetzt jeder die Pflicht, all seine Kräfte zu regen. Ich fordere deshalb die Schülerinnen zur Bildung einer Arbeitsabteilung für das Rote Kreuz auf. Jede Klasse hat drei Vertrauensschülerinnen zu wählen, die dafür Sorge tragen sollen, daß die Anordnungen der Schule möglichst schnell jeder Schülerin zugestellt werden. Näheres über die Arbeitsabteilung erfahrt ihr später. Und nun, meine lieben Schülerinnen, bevor wir an unser Werk zum Wohle unseres Vaterlandes gehen, stimmt mit mir ein in den Ruf: Seine Majestät, unser allergnädigster Kaiser – hurra – hurra – hurra!«
In brausender Begeisterung einten sich die jungen Mädchenkehlen in dem Hochruf auf den obersten Feldherrn, und jauchzend, in heller Hoffnungsfreudigkeit klang es vielhundertstimmig in den sonnengoldenen Augusttag hinaus: »Heil dir im Siegerkranz«.
So endete die erhebende Feier.
Dann hieß es: An die Arbeit! Neidisch