»Also ziehe nur dein Portemonnaie und berappe, mein Söhnchen«, lachte der Große.
»Du auch – du auch, Hänschen«, Annemarie klatschte jubelnd in die Hände. »Wir sagen jetzt ›Geldtasche‹ und nicht Portemonnaie.« In ihrer Ausgelassenheit sprang sie noch ehe Gesegnete Mahlzeit gewünscht war, vom Tisch.
»Annemarie, leg’ erst deine Serviette zusammen«, rief Fräulein hinter dem Wildfang her.
»Nee, Fräulein, meine Serviette lege ich bestimmt nicht zusammen – aber – mein Mundtuch«, setzte Nesthäkchen schnell lachend hinzu, als es Fräuleins unzufriedene Miene sah. »Siehst du, geliebtes Fräulein, nun habe ich dich gefangen!«
Den Hauptbeitrag zur Fremdwortkasse aber hatte die arme Großmama zuzusteuern.
Was – auf ihre alten Tage sollte sie noch umlernen? Das konnte kein Mensch von ihr verlangen. Sie ordnete die Blumen in eine Vase, wie sie das ihr Leben lang getan und nicht in ein Blumengefäß, wie ihr patriotisches Enkelchen es verlangte. Sie ließ die Jalousie über dem sonnigen Balkon herunter, wenn der Grünschnabel auch behauptete, man müsse jetzt das Zeltdach über den Vorbau herablassen. Und die Chaiselongue, auf der Großmama nach Tisch ihr Schläfchen zu machen pflegte, die wurde im Leben kein Liegestuhl trotz Nesthäkchens eifrigsten Bemühungen.
Als Tante Albertinchen mit den grauen Ringellöckchen nachmittags erschien, bekam Großmama wenigstens eine Leidensgefährtin.
»Ich habe eben den Klaus mit der Botanisiertrommel getroffen, er macht wohl eine Landpartie?« fragte die Tante nach der ersten Begrüßung.
»Haach – Tante Albertinchen, du mußt einen Groschen in meine Fremdwortkasse zahlen. Landpartie – pfui – Ausflug heißt es jetzt und Pflanzentrommel!« Damit umsprang Nesthäkchen die alte Tante patriotisch.
Die gute Tante. Albertinchen wußte gar nicht, was los sei, sie machte ganz entsetzte Augen.
»Das Kind quält mich heute bereits den ganzen Tag mit ihrer Fremdwortantipathie, ich bin schon ganz mürbe«, lachte Großmama.
Auch Nesthäkchen lachte mit dem schelmischsten Gesicht von der Welt.
»Antipathie, Großmuttchen? Na, laß nur, du brauchst heute nichts mehr zu bezahlen, du hast schon so schrecklich viel blechen müssen«, setzte das Enkeltöchterchen mitleidig hinzu.
Aber Großmama wollte keinen »Pardon« und – mußte nun sogar zehn Pfennige bezahlen.
Tante Albertinchen lachte so herzlich, daß es aussah, als ob alle ihre grauen Löckchen mitlachten. »Ei, da hole mir mal meinen Pompadour, mein Liebling, er liegt neben meiner Mantille, damit ich meine Strafe abbüßen kann.«
»Pompadour – Beutel!« Die zarte Tante Albertinchen fuhr ordentlich vor Schreck zusammen, so trompetete Nesthäkchen. »Und Mantille ist auch bestimmt ein Fremdwort, man kann ebensogut Umhang sagen.«
»Wollen mal sehen, ob der Kondukteur mir noch so viel Kleingeld gelassen hat.« Wieder mußte die arme Tante Albertinchen zusammenzucken, denn den »Kondukteur« ließ Nesthäkchen trotz der Tafel Schokolade, welche die gute, alte Tante aus ihrem »Beutel« hervorzog, nicht durchgehen.
»Weißt du, Herzchen, du kannst etwas von Lemke holen, Fräulein weiß schon Bescheid«, Großmama machte eine verabschiedende Bewegung zu dem kleinen Mädchen. So lieb sie Nesthäkchen auch hatte, heute fiel es ihr wirklich auf die Nerven.
Da Lemke der nebenan wohnende Konditor oder vielmehr Zuckerbäcker war, nahm Annemarie die Verabschiedung nicht weiter übel.
»Also sechs Eisbaisers, Annemiechen«, Fräulein gab der Kleinen Geld.
»Jawoll, Eisbaisers, gib nur gleich noch einen Sechser für meine Kasse, Fräulein, ›Eisküsse‹ hole ich« – und fort war der Wildfang.
Wirklich, zu des dicken Konditors namenlosem Staunen verlangte die Kleine »sechs Eisküsse«.
»Eisküsse«, der Konditor Lemke kratzte sich seine kahle Platte. »Ach, du meinst wohl Negerküsse?« er holte ein Schokoladengebäck herbei.
»Nee – nee – Eisküsse«, aber da Annemarie sah, daß der Mann sie ganz und gar nicht verstand, setzte sie mit Überwindung hinzu: »Ich meine die ehemaligen Eisbaisers.«
»Die heißen noch immer so«, verwunderte sich der dicke Konditor und gab ihr endlich das Gewünschte.
Als Annemarie mit ihren Eisküssen aus dem Laden trat, hörte sie an der Ecke Extrablätter ausrufen.
Hallo – gab es da etwa einen neuen Sieg? Die Vaterlandsliebe sowohl wie die Aussicht auf einen schulfreien Tag beflügelten Nesthäkchens Beine.
»Großer Sieg Hindenburgs bei Tannenberg, über 30 000 Russen gefangen!« An der Ecke hielt ein Auto und daraus flatterten die Siegesnachrichten unter die jubelnd danach greifende Menge.
Auch Annemarie ergatterte ein Blatt, und nun ging es im Galopp zurück. Sie wollte die erste sein, welche die Freudenbotschaft daheim meldete, sie wollte vor den Brüdern ihre Fahne heraushängen.
Trotz des eiligen Laufes mußte sie die telegraphische Nachricht aber noch studieren. War es da ein Wunder, daß sie nicht daran dachte, ihre »Eisküsse« gerade zu halten, und daß die Soße, ach nein, die Tunke von dem Himbeereis ganz gemütlich auf ihr hellblaues Leinenkleid herunterkleckerte?
Aber was schadete das, einem so herrlichen Sieg gegenüber, der sich bald als noch viel bedeutender herausstellte, als die erste Nachricht kund tat? Die russische Narewarmee war von Hindenburg in die Masurischen Sümpfe gejagt worden – was wog dagegen Tante Albertinchens Todesschreck, als Nesthäkchen mit Indianergeheul auf den Balkon herausgestürzt kam: »Extrablatt – Extrablatt – großer Sieg bei Tannenberg!«
Und was wollte schließlich dagegen besagen, daß sie nun selbst die ersten fünf Pfennige ihrem kleinen Feldgrauen zu zahlen hatte, da man doch jetzt »Sonderblatt« sagen mußte und nicht Extrablatt! Die gab die kleine Patriotin gern. War ihre Fahne doch die erste in der ganzen Straße, welche den großen Sieg anzeigte. Bald aber kam eine nach der andern, farbenfreudig im Winde wehend, heraus. Und die Glocken Berlins verkündeten mit ehernem Munde den gewaltigen Sieg Hindenburgs.
7. Kapitel
Nesthäkchen hilft den ostpreußischen Flüchtlingen
Die furchtbar drohende Russengefahr, die sich in das blühende Ostpreußen verheerend hineingewälzt hatte, war durch den großen Sieg des Feldmarschalls zum Stehen gebracht worden. Aber die armen, von Haus und Hof vertriebenen Menschen, die vor den sengenden, plündernden und mordenden Kosaken, wie sie gingen und standen, flüchten mußten, denen konnte Hindenburg nicht helfen.
Da mußten andere einspringen.
In endlosen Scharen überschwemmten sie die großen Städte. Täglich kamen Züge, mit ostpreußischen Flüchtlingen vollgepfropft, auf dem Schlesischen Bahnhof in Berlin an.
Das gab heiße Arbeit für die freiwilligen Hilfstruppen dort. Die jungen Pfadfinder mußten sich fast verdoppeln, um allen Ansprüchen gerecht zu werden. Man hatte sie vom Schulunterricht befreit, da die Nachmittagsstunden nicht ausreichten.
Kehrte Hans Braun spät am Abend abgejagt nach Hause zurück, dann konnte er nicht genug von dem Elend erzählen, welches er dort auf dem Bahnhof stündlich zu sehen bekam. Verstörte, aus der Heimat und ihrer friedlichen Beschäftigung herausgerissene Menschen, die all ihr Hab und Gut in einem Bündelchen trugen, spien die langen Eisenbahnzüge aus. Im Viehwagen zusammengepfercht Menschen, Ziegen und Hühner, alles durcheinander. Trauernde, denen liebe Angehörige von den Kosaken erstochen oder verschleppt worden waren. Eltern, die nach ihren Kindern jammerten, und weinende Kleinen, welche elternlos umherirrten – ein traurig, traurig Bild, das sich tagtäglich vor den jungen Augen der Pfadfinder