»Unser Kaiser hat überhaupt gesagt, ›es gibt keine Parteien mehr‹, das heißt, alle Menschen sind jetzt gleich«, regte sich Marlene von neuem auf.
Und Annemarie, sonst die lebhafteste bei derartigen Unterhaltungen schwieg heute? Wurde nur rot, und tat so, als ob sie sich angelegentlich die Milchkannen und den weißen Käse in dem Milchgeschäft ansah, vor dem sie gerade standen? Trotzdem dieselben sie doch gar nicht interessierten.
Doktors Nesthäkchen fühlte sich gleichfalls durch die Worte der Freundinnen getroffen. Es war Annemarie insgeheim auch höchst peinlich gewesen, in die Volksschule zu gehen. Unweit an der Ecke war das Gymnasium von Klaus. Wenn dessen Freunde sie nun für eine Gemeindeschülerin hielten!
Aber Marlenes Worte hatten ihr gezeigt, wie dumm und hochmütig sie gewesen. Von nun an wollte sie sich nie wieder mehr dünken als ärmere Kinder!
In der Pause vor der französischen Stunde hatte Doktors Nesthäkchen am nächsten Tage dafür aber wieder den größten Mund.
»Nein, ich nehme bestimmt nicht mehr Französisch mit! Wozu sollen wir uns denn mit den unregelmäßigen Verben herumquälen. Dazu bin ich überhaupt viel zu vaterlandsliebend!« rief Annemarie Braun lebhaft.
»Aber Annemie, Französisch ist doch im Stundenplan festgesetzt, also mußt du es doch lernen«, versuchte Margot sie zu überreden.
»Ist mir ganz piepe, ich lasse mich einfach dispensieren«, trumpfte der Blondkopf auf.
»Wir wollen auch keine französische Stunde mehr haben – wir sind ebenso vaterlandsliebend wie du!« rief Marlene.
»Ja – ja – deutsche Mädchen lernen nicht mehr Französisch«, fiel die Klasse in wildem Tumult ein.
»Nanu, was ist denn hier für ein ungehöriger Lärm!« Professor Möbus, der französische Lehrer, betrat stirnrunzelnd die Klasse. Tiefes Schweigen. Keine von den Schülerinnen wagte sich jetzt hervor. Jede verbarg das Gesicht möglichst tief in der verpönten französischen Grammatik.
Nur Annemarie Braun kuschte nicht. Nein, ein deutsches Mädel war nicht feige. Mit freiem Blick trat sie vor.
»Herr Doktor, ich bitte Sie, mich von der französischen Stunde dispensieren zu wollen«, bat sie laut.
Donnerschock – die Mitschülerinnen blickten voll Bewunderung auf das kecke Mädel. Der durch das Stirnrunzeln des Lehrers geschwundene Mut wagte sich auch bei den andern wieder hervor.
Professor Möbus blickte seine Schülerin an, als ob sie nicht ganz richtig im Kopf sei.
»Bist du krank?«
»Nein, aber ich bin ein deutsches Mädchen, und die Sprache unserer Feinde will ich nicht mehr lernen!« temperamentvoll warf Annemarie den Kopf mit den kurzen Blondzöpfen zurück.
»Wir auch nicht – wir wollen auch nicht mehr französische Stunde haben!« Hier und da erschallte es von einer besonders Mutigen.
Marlene und Ilse traten sogar vor und stellten sich Annemarie zur Seite.
In dem eben noch so ernsten Gesicht des Lehrers begann es belustigt zu zucken. Er blickte auf die rebellische Mädchenschar und freute sich heimlich über ihre begeisterte Vaterlandsliebe, die sie zu diesem, wenn auch kindischen Wunsche getrieben.
»Also ihr wollt keine französische Stunde mehr haben – schön – glaubt ihr, daß Deutschland Frankreich dadurch eine Stunde früher besiegen wird?« fragte er ruhig.
Die Kinder schwiegen.
»Nützt ihr unserem Vaterlande oder unseren tapferen Truppen damit, wenn ihr die feindliche Sprache nicht lernt?« fragte der Lehrer weiter.
Bestürzt sahen sich die Schülerinnen an – nein, sie nützten damit keinem einzigen: höchstens sich selbst, daß sie sich nicht mit den unregelmäßigen Verben abzuquälen brauchten.
»Im Gegenteil, ihr schadet eurem Vaterlande dadurch, und auch euch selbst schadet ihr«, sagte da der Lehrer ernst. »Jawohl, wenn ihr mich auch so ungläubig anseht, Kinder. Deutschland verlangt eine gebildete Jugend, in dieser großen Zeit darf keine Kraft brach gelegt werden. Der Krieg wird hoffentlich nicht lange währen, im Frieden knüpfen sich wieder geistige und Handelsbeziehungen zwischen den verschiedenen Völkern an. Denkt nur mal, was für Folgen sich daraus ergeben würden, wenn die deutschen Mädchen nicht mehr Französisch und Englisch lernen würden. Keine von euch könnte später ihr Lehrerinnenexamen machen oder studieren. Keine könnte einen kaufmännischen Beruf ergreifen, denn französische und englische Korrespondenz ist ein wichtiges Fach desselben. Alle diese Kräfte würden dem Vaterlande entzogen. Aber auch abgesehen vom Beruf, ihr würdet ungebildet bleiben, denn Sprachkenntnisse gehören zur Bildung. Ihr kämt um den Genuß, die fremden Länder kennen zu lernen, da ihr euch dort nicht verständigen könnt. Wer sein Vaterland lieb hat, der zeige es in dieser großen Zeit durch doppelten Fleiß und Eifer.« So sprach der kluge Lehrer und schlug die französische Grammatik auf.
Und die aufrührerischen Mädel sahen ihre Torheit ein und gaben sich grenzenlose Mühe, ihre Vaterlandsliebe durch Fleiß und Aufmerksamkeit zu beweisen.
Selbst Annemarie Braun befreundete sich wieder mit den »ekligen« unregelmäßigen Verben. Aber beim Nachhauseweg konnte sie es sich doch nicht versagen, vor den Freundinnen ihrer Meinung Ausdruck zu geben: »Wenn unsere Feldgrauen ganz Frankreich erobern, dann wird da überhaupt bloß noch deutsch gesprochen, und wir haben umsonst Französisch gelernt!« Aber diesmal fand sie weniger lebhafte Zustimmung. Die eindringlichen Worte des Herrn Professors hallten noch in den Mädchenherzen nach.
Um so eifriger nahm man Ilses Vorschlag an, eine Fremdwortkasse in der Klasse einzurichten. Für jedes Fremdwort außerhalb der Sprachstunden war fünf Pfennige zu entrichten. Das Geld wollte man später zu Weihnachtsgaben für das in ihrer ehemaligen Schule eingerichtete Lazarett verwenden.
Auch zu Hause sollte eine jede Schülerin solch eine Fremdwortkasse einführen und das Geld zu Liebesgaben verwenden.
»Au fein, Großmama sagt immer ›adieu‹, da muß sie jedesmal fünf Pfennige bezahlen. Und Tante Albertinchen braucht überhaupt so viele Fremdworte, das haben alte Leute, glaube ich, so an sich. Wenn Tante Albertinchen doch recht bald käme!« rief Annemarie hoffnungsvoll.
Von nun war keiner im Hause mehr vor Nesthäkchen sicher. Wie ein Polizeihund paßte es auf, daß kein unerlaubtes Fremdwort entschlüpfte.
Dabei füllte sich ihre Kasse, die einen niedlichen feldgrauen Landwehrmann darstellte. Ein einziges Mittagbrot hatte allein schon fünfzig Pfennige eingebracht.
»Hanne, lassen Sie die übrig gebliebene Suppe in der Terrine«, sagte die Großmama.
»Hurra – fünf Pfennige!« brüllte Nesthäkchen zu Großmamas Schreck dazwischen, »es heißt Suppenschüssel.«
Hanne brachte den Braten.
»Die Sahnensoße zu das Roastbeef ist heut’ pikfein jeraten«, die alte Köchin durfte sich schon ein Wort gestatten.
»Hanne einen Groschen – einen Sechser für ›Soße‹, denn ein guter Deutscher sagt ›Tunke‹, und den zweiten für ›Roastbeef‹, Rinderbraten heißt’s«, schrie Annemarie und hielt auch schon ihren Feldgrauen hin.
»Was –« Hanne stemmte empört die roten Hände in die breiten Hüften. »Was – so’n Kiekindiewelt will mich sagen, daß dies hier kein Roastbeef is? An die zwanzig Jahr koch’ ich nu schon, da werd’ ich doch woll ’n Roastbeef von’n Rinderbraten unterscheiden können. Und ›Tunke‹ nennt sie meine pikfeine Sahnensoße!« Hanne konnte sich lange nicht beruhigen. Sie dachte gar nicht daran, dem Feldgrauen das Strafgeld zu entrichten.
Auch die andern mußten ihren Beitrag liefern. Trotzdem Fräulein behauptete: »Na, mich fängst du nicht, Annemiechen!«
Klaus erzählte strahlend, daß er bloß zwei Fehler im Mathematikextemporal