Ach. wie glücklich war Doktors Nesthäkchen, daß es nun schon in der sechsten Klasse war und beim Umzug mithelfen durfte.
Jeder Klasse fiel eine andere Aufgabe zu. Hier wurden Landkarten säuberlich aufgestapelt, dort physikalische Instrumente fortgetragen. Der Zeichensaal und die Bibliothek mußten geleert, alle Schulbücher und Hefte geordnet und sorgsam verpackt werden. Die Aula und der Turnsaal dienten zur Unterbringung sämtlicher Schulgeräte. Die Lehrer hatten ihre Röcke ausgezogen und schleppten im Schweiße ihres Angesichts wie Ziehleute Tische, Bänke und Pulte fort. Lehrerinnen und Schülerinnen schafften mit heißen Wangen. Wie in einem Ameisenhaufen wimmelte das in eifriger Arbeit durcheinander, ein jedes erfüllte in all dem Gewühl gewissenhaft die ihm zuerteilte Aufgabe.
Die sechste Klasse hatte unter Aufsicht ihrer neuen Ordinaria, Fräulein Konrad, den Klassenschrank ausgeräumt, und die Schülerinnenbibliothek in Waschkörbe gepackt. Dabei geschah es allerdings, daß Ilse Hermann, eine kleine Leseratte, plötzlich in all dem Gewirr, all der Unruhe, ganz vertieft in eine schöne Erzählung war. Mit in die Ohren gestopftem Zeigefinger hockte sie unter all den Vorüberhastenden und hatte gar keine Ahnung mehr, wo sie sich befand.
Annemarie Braun, die gerade ein Pack Bücher vorüberschleppte, gab ihr einen freundschaftlichen Puff, daß der künstliche Turm von Büchern zerbarst und um die ganz verlesene Ilse herniederprasselte: »Du, gefaulenzt wird hier nicht!«
Erschreckt fuhr Ilse auf, während Margot, die Annemarie beim Einsammeln der Flüchtlinge behilflich war, lachend meinte: »Unsere Verwundeten sollen wohl warten, bist du mit deiner Geschichte fertig bist, Ilse?«
Errötend nahm die kleine Leseratte wieder ihre Arbeit auf.
Brrr – war das heiß! Annemaries Gesicht glühte wie ein Plättbolzen, als sie mit ihrer Last treppauf, treppab lief. Aber was tat das – heute empfand keiner irgendwelche Beschwerden.
Einige Pfadfinder trugen die Tische und Bänke aus der sechsten Klasse.
»Vorsehen!« – riefen sie den in die Klasse zurückeilenden Freundinnen zu und – »Hänschen – mein Hänschen!« jubelte es zurück. Zur Belustigung der Mitschülerinnen und Pfadfinder sprang Annemarie Braun auf die Bank, die gerade fortgetragen werden sollte und verabfolgte dem einen Pfadfinder einen Kuß.
»Hänschen – wie kommst du denn hierher?«
Dem Obersekundaner war die Sache, so lieb er sein kleines Schwesterchen auch sonst hatte, äußerst peinlich. Er schielte errötend zu seinen grinsenden Kameraden hin und sagte möglichst militärisch: »Vom Pfadfinderbund zum Dienst befohlen!« Dann machte er mit seiner Bank, daß er fortkam. Nesthäkchen aber war selig über die unvermutete Begegnung.
Margot, als Erste der Klasse, war das Ehrenamt zugefallen, den großen Globus, der nicht viel kleiner war als sie selbst, in Sicherheit zu bringen. Annemarie half ihr getreulich dabei, indem sie neben ihr her trabte und alle paar Sekunden die Hände nach dem glatten runden Ding ausstreckte, um es der Freundin, falls sie ermüdete, abzunehmen. Die aber war äußerst ehrgeizig. Trotzdem ihr die Arme allmählich erlahmten, mochte sie sich nicht schwach zeigen.
»Laß doch«, sagte sie ein wenig gereizt, als Annemarie zum so und sovielten Male wieder ihre Hilfe anbot und machte eine ungeduldige Bewegung. Dabei entglitt die glatte, tückische Weltkugel den müden Mädchenarmen – bumderattada – lag der Globus auf den Steintreppen mit einem tüchtigen Loch.
Margot fing erschreckt an zu weinen, und auch Annemarie machte ein entsetztes Gesicht. Polen war auf der Weltkugel zertrümmert, und Rußland zeigte eine gehörige Beule.
»Du bist schuld, Annemarie – du ganz allein, warum wolltest du auch immer mit anfassen, dann natürlich muß es einem ja aus der Hand rutschen – ach, was wird Fräulein Konrad sagen!« rief Margot unter heißen Tränen.
Annemarie stand starr. Bei ihrer Wahrheitsliebe schmerzte sie die ungerechte Beschuldigung der Freundin aufs tiefste.
»Ich hab’ ja noch gar nicht angefaßt – ich hab’s doch gut gemeint! Aber wenn du so bist, bin ich mit dir schuß auf ewig und gehe von jetzt an immer mit Marianne Davis«, rief Doktors Nesthäkchen kirschrot im Gesicht vor Ärger und fing ebenfalls an zu weinen.
Um die beiden kleinen Streithammel bildete sich sofort ein Auflauf von Neugierigen.
»Na, was gibt’s denn hier?« Professor Herwig, einer der ältesten Lehrer des Lyzeums, lugte über seine Brillengläser hinweg auf die beiden sich gegenüberstehenden heulenden Kinder.
»Der Globus ist heruntergefallen – Polen hat ein Loch bekommen und Rußland eine Beule«, schluchzte Annemarie, denn Margot war so schmerzerfüllt, daß sie keine Auskunft geben konnte.
»Das ist ja eine nette Geschichte!« Der alte Herr Professor griff nach der zertrümmerten Weltkugel. »Na, trocknet nur eure Tränen«, wandte er sich dann lächelnd an die weinenden Kinder. »Die Welt geht jetzt durch den Krieg ja auch in Stücke, was ist diese Weltkugel hier denn besser! Wollen es als eine gute Vorbedeutung für unsere Ostheere ansehen, daß Polen von ihnen erobert wird und Rußland seine Beule wegkriegt – hahaha«, jetzt lachte er dröhnend. Einige Lehrer und Lehrerinnen, die sich inzwischen dazu gefunden, stimmten ein.
Den beiden kleinen Freundinnen aber war noch gar nicht zum Lachen zumute. Unter Tränen griff Doktors Nesthäkchen, da Margot tatenlos ihre in Trümmer gegangene Weltkugel beweinte, nach derselben und transportierte sie weiter. Freundin Margot, das Taschentuch vor den Augen, hinterher.
»Ei, Kinder, was ist denn das hier für ein Leichenbegängnis?« Fräulein Hering hielt die zwei Trauernden an.
Auch sie erfuhr von dem Unglück.
»Wem ist denn das passiert, dir, Annemarie?«
Doktors Nesthäkchen senkte den Blondkopf und gab keine Antwort. Nein, es verpetzte Margot, die einstige beste Freundin nicht! Lieber litt es selbst die Strafe.
Der bisher gesenkte braune Kopf aber hob sich nach heftigem Seelenkampf plötzlich in die Höhe. »Ich habe den Globus hingeworfen«, sagte Margot leise.
»Ich bin aber schuld daran gewesen«, fiel Annemarie lebhaft ein, sie wollte an Edelmut nicht hinter Margot zurückstehen.
»Das ist hübsch von euch, Kinder, daß die eine nichts auf die andere kommen läßt – das ist die wahre Freundschaft!« Freundlich schritt Fräulein Hering weiter, ohne über ihre Ungeschicklichkeit zu schelten.
Die zwei wurden noch röter als rot. Unsicher sahen sie sich an, sie schämten sich des Lobes, das sie doch eigentlich ganz und gar nicht verdient hatten.
War es nun Annemarie oder war es Margot, welche den ersten Schritt zur Versöhnung tat? Das wußten sie nachher alle beide nicht mehr. Aber ihre Hände hielten sich plötzlich wieder gefaßt, und über dem zertrümmerten Polen gaben sich die zwei, die für »ewig schuß« sein wollten, den Versöhnungskuß. Die Rüge von Fräulein Konrad, die in Anbetracht der sich drängenden Arbeit sehr mild ausfiel, trugen sie dann getreulich gemeinsam.
Das wäre ja auch schrecklich gewesen, wenn ein so schönes Werk, wie ihre eifrige Hilfsbereitschaft für die Verwundeten, die beiden Freundinnen entzweit hätte!
4. Kapitel
Für unsere Vaterlandsverteidiger
»Viele Hände machen der Arbeit bald ein Ende«, auch in dem Mädchenlyzeum bewahrheitete sich dieses Sprichwort. Schon nach knapp drei Tagen war die Hauptarbeit getan, Aula und Turnhalle vollgestopft mit allem, was sich sonst auf sämtliche Schulräume verteilt hatte. Eine mächtige Küche wurde angebaut, Badeeinrichtungen geschaffen und fünfhundert Betten aufgestellt.
Die Werktätigkeit der Schülerinnen aber begann jetzt erst eigentlich. Jede erhielt einen gedruckten Aufruf:
»An