ALTE WUNDEN (Black Shuck). Ian Graham. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ian Graham
Издательство: Bookwire
Серия: Black Shuck
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783958351257
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Lichts auf dem Flur spiegelte er sich nicht mehr in der Scheibe, aber in letzter Zeit erkannte er sich ohnehin kaum wieder. Nachdem er sich einen zweiten Bourbon eingeschenkt und hinuntergestürzt hatte, stellte er das Glas aufs Tablett zurück und verließ den Raum ebenfalls.

      Kapitel 11

      20:06 Uhr, Eastern Standard Time, Freitag, Virginia Baptist Hospital, Lynchburg, Virginia

      Seth Castellano fuhr mit seinem dunkelblauen Crown Victoria in die überdachte Aufnahme des kleineren der beiden Hauptkrankenhäuser im Großraum Lynchburg. Auf dem Gelände der mehrstöckigen Einrichtung mit Ziegelfassade ging es hektisch zu, da ein beunruhigend stetes Kommen und Gehen herrschte. Nachdem er auf dem betonierten Gehweg ausgestiegen war, der zum Haupteingang führte, hielt er dem Parkplatzwächter, der ihm gerade sagen wollte, dass er den Wagen dort nicht abstellen durfte, seine Marke vor. Der Mann wich zurück, und Castellano ging ohne weitere Worte vorbei, wobei er die Schultern hochzog, um seinen hellbraunen Trenchcoat zu richten, und den Kragen glatt strich, während er mehrere Krankenwagen ansteuerte, die vor dem verglasten Eingang standen.

      »Hat irgendjemand von Ihnen vor ungefähr 20 Minuten einen Mann aus der Gegend um die Cottonwood Road eingeliefert?«, fragte er eine Gruppe Sanitäter. Seine Aussprache war südlich gefärbt, und die Worte hingen kurz im Nebel, den die feuchtkalte Luft bildete. In seinem Akzent vereinte sich Louisiana-Kreolisch – er kam von dort unten – mit Eigenheiten aus der Washingtoner Umgegend, wo er seit über zehn Jahren wohnte und arbeitete.

      Die Sanitäter unterbrachen ihr Gespräch und musterten ihn kurz, bevor sie reagierten. »Haben wir«, bestätigte ein blau uniformierter Blondschopf, indem er mit seiner Zigarette auf einen Kollegen neben sich zeigte.

      »Welche Verletzungen hatte er genau?«, bohrte Seth weiter.

      Der Sanitäter hob zur Antwort an, besann sich dann aber und sah sein Gegenüber mit fragender Miene an, als wollte er erwidern: »Was geht dich das an?«

      Castellano zog wieder die schwarze Lederbrieftasche mit seinem Ausweis aus dem Mantel und klappte sie auf. »FBI«, sagte er. »Welche Verletzungen hatte er genau?«

      »Risswunden auf dem linken Handrücken und über dem rechten Auge. Er kam erst ungefähr zwei Minuten vor unserer Ankunft hier wieder zu sich und nuschelte irgendetwas über seine Frau. Wir übergaben ihn der Ambulanz; die hat man jetzt zur Notaufnahme umfunktioniert, um den Andrang aus der Allgemeinklinik zu bewältigen.«

      »Und wie sah er aus?«

      »Die Haare eher blond, mit Bart, recht schlank. Er trug ein blaues Knopfhemd und hellbraune Dockers. Er sprach ja nicht viel, hatte aber so einen Akzent, vielleicht aus England.«

      Castellano klappte die Marke wieder zu und schob sie zurück in die Innentasche an der Brust seines Trenchcoats, als er bereits durch die automatische Schiebetür in den Empfang ging, der weiträumig und mit grauem Teppichboden ausgelegt war.

      »Suchen Sie etwas, kann ich Ihnen helfen?«, fragte eine Dame an der Informationstheke gleich hinterm Eingang.

      »Die Ambulanz«, gab Castellano an.

      »Den Flur dort links entlang und dann gleich rechts. Gehen Sie bis ganz nach hinten durch.«

      Castellano bewegte sich schon weiter, bevor sie ausgesprochen hatte. Auf dem Weg durch den himmelblau gestrichenen Gang durchdachte er seine Optionen. In einer modernen Klinik, wo die Privatsphäre von Patient und Personal genauso wichtig war, wie die medizinische Fürsorge selbst, gab es zwangsläufig Überwachungskameras und andere Sicherheitsvorkehrungen. Auch wenn er unbedingt garantieren wollte, dass der Mann, der Abidan Kafnis Tod anscheinend bezeugt hatte, das Krankenhaus nicht lebend verließ, befand er sich nicht in einem Film. Er konnte nicht einfach in ein abgedunkeltes Zimmer treten, einen Schalldämpfer aufschrauben und den Kerl wegpusten, sondern musste behutsamer vorgehen.

      Vor einer weiteren selbsttätigen Tür mit weißem Lackschriftzug, der die Station dahinter als Ambulanz auswies, rückte er von der Idee ab, sich hineinschleichen und ebenso unbemerkt wieder verschwinden zu können. Die Tür öffnete sich mit einem Zischen und gab den Blick auf einen langen, hellen Flur voller fahrbarer Krankentragen preis. Ärzte und Schwestern hetzten mit angespannten Mienen herum, während sich Patienten gequält auf ihren Liegen wanden – teils mit Beistand von Angehörigen, teils allein und sichtlich entsetzt. Er wusste ja, dass die kleine Station behelfsmäßig als Notaufnahme verwendet wurde, um dem Andrang aus dem Lynchburg General Hospital Herr zu werden, hatte aber nicht damit gerechnet, die Folgen durch den Bombenanschlag, in den er eingeweiht gewesen war, derart hautnah mitzubekommen.

      Er schluckte krampfhaft und betrat die Station. Links und rechts lagen Männer in Anzügen mit Krawatte, die den Gang hinauf- und herunterschauten, weil sie das Personal suchten, von dem sie behandelt werden sollten. »Doktor, Doktor!«, rief einer mit ausgestreckten Händen und hielt Castellano am Mantel fest, als er vorbeiging. »Ich habe Schmerzen. Geben Sie mir doch etwas, damit es aufhört!«

      Er schaute sich den Verletzten flüchtig an. Der hastig angelegte Verband gab klar zu erkennen, dass sein Bein in Mitleidenschaft gezogen war, wohingegen seine Kleidung staubig und mit Asche überzogen war, also musste er zum Zeitpunkt der Explosion im Gebäude gewesen sein. »Tut mir leid«, sagte Seth, während er dem Mann den Zipfel entriss. »Ich bin kein Arzt.«

      Er folgte dem Flur bis zum Ende der Station, wo sich ein Hintereingang der Einrichtung in Form einer automatischen Flügeltür aus Glas befand. Direkt davor befand sich ein Schwesternzimmer, in dem es vor Männern und Frauen in Krankenhauskitteln wimmelte.

      »Suchen Sie jemanden, Sir?«, fragte laut eine weibliche Stimme. Es war eine Blondine mit rosafarbenem Anzug, die hinter der Theke saß.

      »Ja, einen Mann, der mit Risswunden am Kopf und an einer Hand aus der Gegend um die Cottonwood Road hergebracht wurde.«

      »Sie werden ihn mir viel genauer beschreiben müssen; in der letzten Stunde haben wir über 50 Patienten aufgenommen, und Risswunden sind anscheinend gerade in Mode.«

      Er wunderte sich nicht über ihr mangelndes Feingefühl in Bezug auf die Patienten. Durch seine Arbeit hatte er es während der vergangenen zehn Jahre wiederholt mit Krankenhäusern zu tun bekommen, zuerst als Polizeiermittler in New Orleans und dann nach Antritt seiner jetzigen Stelle als FBI-Agent im Außendienst. Was Unbedarfte als Notfall erachteten, trieb Krankenhausangestellten selten Schweiß auf die Stirn.

      Als er seine Marke aus der Innentasche nahm und zum gefühlten hundertsten Mal an diesem Abend aufklappte, erwiderte er: »Dieser Mann hat Risse über dem rechten Auge und auf dem linken Handrücken; er ist schlank, blond und bärtig; möglicherweise spricht er mit Akzent. Sie müssen Ihre Einweisungsformulare für mich überprüfen und eine Liste der infrage kommenden Personen erstellen. Es ist sehr wichtig, dass ich mich mit ihm unterhalte.«

      Die Frau blätterte in einem Stapel Papiere, doch bevor sie etwas entgegnen konnte, bemerkte ein hörbar gestresster Mann hinter Seth: »Ich fürchte, Sie müssen später wiederkommen, Officer. Hier herrscht momentan Ausnahmezustand.«

      Als sich Castellano umdrehte, trat ein grauhaariger Mann im weißen Labormantel an die Theke des Schwesternzimmers.

      »Ich bin Dr. Garvinton, der Chefarzt auf dieser Station«, stellte er sich vor. »Im Augenblick sind wir mit drei Patienten pro Zimmer belegt, und auf dem Flur warten weitere 20. Sie müssen Ihre Verhöre vorerst verschieben.« Mit diesen Worten griff er zu einem Stoß Krankenblätter und begann, sie durchzusehen.

      »Ich kann meine Verhöre nicht verschieben, Doktor«, betonte Castellano mit vor Verachtung triefender Stimme. »Falls Sie es noch nicht bemerkt haben sollten: Ausnahmezustand herrscht gerade überall. Der Mann, den ich sprechen muss, könnte durchaus Zeuge des Mordes an einem anderen sein, den wir für das Ziel des Bombenanschlags auf die Universität halten. Sollte er hier sein, muss ich ihn sofort befragen, und hoffentlich gelingt es uns, eine weitere Tat wie diese zu verhindern, wer auch immer dahintersteckt.«

      »Wenn er mit angesehen hat, wie das Opfer starb, heißt das doch, dass die Verantwortlichen