»Ich hab ihn«, kam es heiser von Ludls Lippen. Er richtete sich auf und ging langsam zu dem toten Tier hin. Beinahe scheu betastete er das Geweih und den Hals des Hirschs. »Es ist kein Traum«, flüsterte er. »Ich hab ihn wirklich.«
Mit dem Ärmel wischte er sich über die feucht glänzende Stirn und lachte lauthals. »Da soll noch mal einer sagen, ich wär kein Glückspilz«, rief er übermütig aus. »So viel Glück hat net leicht ein Zweiter.«
Der Übermut schwand schnell. »Den Hirsch kann ich unmöglich allein zu Tal tragen«, murmelte er nach einem abschätzenden Blick auf das tote Tier. »Dafür reichen auch meine Kräfte net aus.«
Seine Überlegungen wurden abrupt unterbrochen. Ein raschelndes Geräusch ließ ihn herumfahren. Er sah einen langen Schatten, der sich rasch der Lichtung näherte. Ludls Gesicht verzerrte sich.
»Sakra, der Jäger!«, würgte er entsetzt hervor.
Mit weiten Sprüngen hetzte er auf den gegenüberliegenden Rand der Lichtung zu. Die kurze Strecke bis zu den schützenden Nadelbäumen schien ihm plötzlich endlos lang zu sein. Er verspürte ein fürchterliches Kribbeln in seinem Rücken, wie er es vorher noch nie verspürt hatte.
»Stehen bleiben!«, gellte eine Stimme hinter ihm her, die er nur allzu gut kannte. »Keinen Schritt weiter, oder es knallt!«
Ein riesiger Satz brachte Ludl in den Schatten der ersten Fichte. Es krachte. Rindenstücke flogen von der Fichte ab. Ludl rannte weiter wie von Furien gehetzt. Er schlug Haken wie ein Feldhase. Noch zwei weitere Schüsse peitschten durch den nächtlichen Bergwald. Doch Ludl war schon im dichten Unterholz verschwunden.
Der Jäger Ebenhecht durchstöberte das nähere Gelände ringsum, dann kehrte er zur Lichtung zurück. Auf den Lauf seines Stutzens gestützt, stand er lange neben dem toten Sechzehnender. Seine grauen Augen glänzten feucht.
»Es war kein guter Einfall von dir, du schöner Bursche«, stieß er gepresst hervor, »in unser Revier herüberzuwechseln. Das hat dir den Tod gebracht. Aber ich bin um eine Erkenntnis reicher. Was ich schon längst vermutet hab, hat sich mit ziemlicher Sicherheit bestätigt. Der Auserwählte meiner Tochter ist ein elendiger Wilddieb. Sein Gesicht ist mir verborgen geblieben, aber an der Gestalt hab ich ihn erkannt. Und an der Art, wie er gelaufen ist.«
Ebenhecht hing sich den Stutzen über die Schulter. »In der Hütte am Holzschlagplatz nächtigen allweil drei oder vier Baumfäller. Sie müssen mir den Hirsch ins Tal hinuntertragen, bevor er heimlich verschwindet. Gewisse Leutl sind damit flink bei der Hand.«
Die Holzknechte machten keine fröhlichen Gesichter, als sie von dem Jäger aus tiefem Schlaf gerissen wurden. Auf eindringliches Zureden erklärten sie sich bereit, den Sechzehnender sofort zu holen und hinab zum Jägerhäusl zu tragen.
Müde langte er selbst dort an, stellte den Stutzen in den Ständer und suchte sofort sein Schlafgemach auf. Die immer noch leidende Frau schlief zu seiner Erleichterung tief. Er kroch in sein Bett und zog die Decke bis ans Kinn. Trotz seiner Müdigkeit ließen ihn die Gedanken nicht zur Ruhe kommen.
Er glaubte zu wissen, wer den wundervollen Hirsch geschossen hatte. Aber jeder Beweis dafür fehlte. Diesen Beweis musste er herbeischaffen, bevor sich Martha entschloss, mit diesem Menschen vor den Altar zu treten. Er drehte sich von einer Seite auf die andere und fand erst kurz vor Tagesanbruch Schlaf. Auch der Mann, mit dem sich seine Gedanken so lebhaft beschäftigten, wälzte sich unruhig in seinem Bett herum. Zwischen Hoffen und Bangen wurde er hin und her gerissen. Immer wieder versuchte er sich in die Erinnerung zurückzurufen, wie hell der Mond auf die einsame Lichtung herabgestrahlt hatte.
»Er kann mich net erkannt haben, der Ebenhecht«, versuchte er sich selbst die Sorgen zu vertreiben. »Aber schad ist’s um den großartigen Sechzehnender.« Geräuschvoll blies er die Luft zwischen den Zähnen hindurch. »Da hat man einen solchen Volltreffer, und dann steht man mit leeren Händen da.« Der Glaube an sein Glück war schwer erschüttert.
*
Dunkle, tief hängende Wolken verdeckten das Blau des Himmels, das den ganzen Vormittag über auf das Schönauertal herabgestrahlt hatte. Um die Tagesmitte waren diese dräuenden Wolken aufgezogen. Ein scharfer Wind blies von Westen her. Dort zuckten auch schon Blitze nieder, und heftiger Regen fiel. Das Donnergrollen klang schwach an die Ohren der Talbewohner, wurde aber von Minute zu Minute lauter.
Mit gerunzelter Stirn spähte Severin zu den westlichen Höhenzügen hinüber. Er stand auf der Angerwiese, nahe am Dorfrand. Das Heu war zu drei großen Haufen zusammengerecht. Bei den Haufen wartete der leere Heuwagen, vor den zwei Braune gespannt waren.
»Jetzt müssen wir uns sputen, Leutl«, rief Severin dem Knecht und der Magd zu, »sonst kriegen wir das Heu nimmer trocken in die Scheune. Der Wind treibt das Gewitter flink zu uns her.«
Die Bediensteten Anna und Vinzenz nickten zustimmend. »Wenn wir tüchtig zupacken, ist das letzte Heu bald auf dem Wagen.« Er spuckte in die Hände. »Auf geht’s!«
Die drei jungen Menschen schwangen die Heugabeln, und große Büschel flogen auf den Wagen. Die feuchte Schwüle setzte ihnen zu, doch sie ließen nicht locker. Auch die Magd hielt mit den Männern wacker mit. Sie war eine stämmige Person. Es fehlte ihr nicht an der nötigen Kraft. Die Heuhaufen wurden kleiner und kleiner und türmten sich fast haushoch auf dem Wagen. Anna kletterte hinauf und schob das Heu so zurecht, dass es Halt fand und nicht wieder vom Wagen rutschte.
»Geschafft!«, ließ sich Severin vernehmen. »Bleib du gleich oben hocken, Anna«, rief er zu der Magd hinauf. Erleichtert nahm er neben dem Knecht auf dem Bock des Wagens Platz. Vinzenz ließ die Zügel klatschend auf die Pferderücken fallen und setzte das Gespann mit einem heiseren »Hüh!«, in Bewegung.
Die grellen Blitze rückten näher, und der Donner folgte in immer kürzeren Abständen. Vinzenz trieb die Braunen zu größerer Eile an, aber der vollbeladene Wagen rollte schwerfällig über den holprigen Feldweg.
»Musst sie net hetzen, die Rössl«, dämpfte Severin den Eifer des Knechts. »Wir kommen noch zeitig heim.«
Keine hundert Meter vor ihnen fuhr ein Feuerstrahl vom Himmel. Sein Ziel war die einsame Pappel an der nächsten Wegkreuzung. Der Stamm wurde aufgerissen, Äste brachen. Fast unmittelbar folgte ein ohrenbetäubendes Krachen.
Eines der Pferde wieherte angsterfüllt auf und versuchte zur Seite auszubrechen. Vinzenz zerrte kraftvoll am Zügel, doch das zweite Pferd folgte dem Beispiel des Artgenossen. Das Gespann kam vom Weg ab. Am Wiesenrain senkte sich der Boden zu einer nicht sehr tiefen Mulde. Als die Räder des Wagens in die Mulde rollten und das Gefährt heftig hin und her schwankte, erscholl ein Schrei.
»Schau, dass du die Rössl zum Stehen bringst, Vinzenz!«, stieß Severin hervor und sprang mit einem mächtigen Satz vom Bock.
Er sah Anna im Gras liegen. Haarscharf an ihr vorbei drehte sich das linke Hinterrad des beladenen Wagens.
Aus Severins Gesicht wich für einen Moment alle Farbe. Dann stieß er einen erleichterten Seufzer aus. Wenige Meter weiter kam der Wagen zum Stehen.
»Das war knapp«, würgte der blonde Bauernsohn hervor. »Die Anna muss einen feinen Schutzengel haben.«
Er rannte zu der Dirn hin und beugte sich zu ihr hinab. Die Lider in dem breiten, derben Mädchengesicht begannen zu zucken. Anna schlug die Augen auf, sah den Jungbauern ein paar Sekunden lang verständnislos an. Dann lachte sie und hob den Kopf.
»Bist hart gefallen, Madl?«, fragte der Blonde besorgt. »Wirst dir doch am End nix gebrochen haben?«
Noch immer lachend, bewegte Anna die Arme und Beine und schüttelte den Kopf, auf dem die hochgesteckten Zöpfe wirr herumhingen.
»Alle Knöcherl sind noch ganz, Severin«, versicherte sie und stand mit seiner Hilfe auf. »Eine kurze Weil hat halt das Hirnkastl ausgesetzt. Daran ist wohl der Schreck schuld und net der