Ein schlankes Mädchen kam ihnen entgegen. Das Mädchen wechselte auf die andere Straßenseite, um nicht zu nah an den Betrunkenen vorbeigehen zu müssen. Einer von den beiden Männern stieß einen Pfiff aus. Sofort torkelten sie hinüber zu dem gegenüberliegenden Gehsteig.
»Das ist doch die Jägerstochter, die Ebenhecht-Martha«, lallte der Größere und wollte nach dem Arm der nächtlichen Passantin haschen, doch diese wich flink aus. Sie hatte aber nicht mit dem zweiten Mann gerechnet. Dieser umschlang sie und versuchte sie zu küssen. Angeekelt beugte sich Martha zurück, sodass die Lippen des Betrunkenen nur ihren Hals trafen.
»Wir verlangen sofort ein saftiges Busserl, sonst schießen wir deinem Vater das schönste Stück Wild weg, das auf dem Stieglerhorn herumläuft, Martha«, ließ sich der Größere mit schwerer Zunge vernehmen.
»Lasst mich los«, flehte die Jägerstochter. »Ich muss heim zu meiner Mutter, der es net gut geht.«
»Kommst noch früh genug heim«, grölte der Mann, der sie mit beiden Armen festhielt, und drückte wieder seinen Mund auf ihren Hals.
Severin hatte von der Straßenecke aus beobachtet, in welchen Nöten sich das Mädchen befand. Mit Riesensprüngen eilte er herbei und packte den Mann am Kragen, der die Jägerstochter umklammerte. Mit einem Ruck war die Bedrängte frei. Der Mann stolperte und prallte gegen die Hauswand. Ganz langsam rutschte er an der Wand abwärts und hockte verdutzt auf dem Pflaster.
Der Größere ging mit drohend angewinkelten Armen auf Severin zu, blieb aber zwei Meter von ihm entfernt stehen und kratzte sich hinterm Ohr. »Das ist ja der junge Mangold«, stellte er ernüchtert fest. »Mit dir will ich keinen Streit anfangen. Das hat damals schon der Anzinger-Gustl bereut, der von dir aus dem Wirtshaus verprügelt worden ist, weil er der Kellnerin die Bluse zerrissen hat. Außerdem sind dein Vater und meiner gute Freunde.«
»Geht nach Haus und schlaft euern Rausch aus«, empfahl der Jungbauer.
Der Größere der beiden Betrunkenen half seinem Kumpan auf die Beine. Schwankend trollten sie sich. Die Jägerstochter atmete befreit auf und legte ihre Hand auf die Schulter des Retters.
»Du bist genau im richtigen Moment aufgetaucht, Severin«, sagte sie. »Die Bürschln wären sonst wohl recht zudringlich geworden.«
Der Jungbauer lachte. »Die beiden Schnapsnasen haben nimmer gewusst, was sie tun«, erklärte er. »Man soll es ihnen net zu arg ankreiden.«
»Es ist vorbei, und ich dank dir, Severin.«
»Net der Red wert, Martha. Du bist aber auch ziemlich spät noch unterwegs. Das ist net ratsam für ein junges, blitzsauberes Dirndl.«
»In der Apotheke war ich der Mutter wegen«, gab ihm die Schlanke Bescheid. »Sie hat’s an der Gallenblase.«
»Das ist freilich ein triftiger Grund«, gab er zu. »Jetzt begleit ich dich lieber bis vor deine Haustür, sonst läuft dir noch einer über den Weg, dem nach einem Busserl gelüstet.« Er schmunzelte.
Nebeneinander schlugen sie die Richtung zum Jägerhäusl ein, das am östlichen Dorfrand stand. Aus den Augenwinkeln betrachtete er verstohlen seine Begleiterin. Ihm gefiel, wie graziös sie sich bei jedem Schritt in den Hüften wiegte. Die schlanke Gestalt wies kleine, aber wohlgeformte Kurven auf. Das Licht der Straßenlaternen ließ das kupferrote Haar aufleuchten, dessen Zöpfe über den kleinen Ohren schneckenartig hochgesteckt waren. Die grünlichen Augen waren leicht schräg gestellt, was ihnen einen rätselhaften Ausdruck verlieh. Unwillkürlich musste er an den grobschlächtigen Neudecker-Ludl denken, der ihm für dieses reizende Geschöpf nicht der passende Lebensgefährte zu sein schien. Er schnitt eine Grimasse.
»Wo die Lieb hinfällt, da bleibt sie liegen«, murmelte er. »Und wenn’s der Misthaufen ist.«
»Was hast gesagt, Severin?«, erkundigte sich die Rothaarige neugierig.
»Nix, Dirndl, nix«, stammelte er verlegen. »Hab bloß ein paar dalkerte Silben vor mich hin geschwafelt.«
Ihr nackter Arm streifte seine Hand, und sein Herz tat einen schnellen Hüpfer. »Man hört, du wärst der Ziegler-Gundi versprochen«, ließ sich die Schlanke vernehmen. »Da hast dir net die Schlechteste ausgesucht, Severin. Unsere Posthalterin ist überall beliebt.«
Der Langbeinige nickte. »Man muss sie mögen, die Gundi«, bestätigte er. »Aber versprochen sind wir einander net. Jeder von uns hat noch seine Freiheit. So soll’s auch noch eine Weil bleiben.« Er schluckte krampfhaft. »Bei dir ist das wohl anders. Der Tag steht schon fest, an dem die Rössl vor die Hochzeitskutsche gespannt werden, gelt?«
Überrascht blieb sie stehen. »Davon kann keine Red sein«, versicherte sie. »Der Ludl hat’s damit ein bissel eilig, aber ich net.« Ihre weißen Zähne gruben sich in die Unterlippe. »Dem Vater will meine Verbindung mit ihm gar nimmer gefallen«, klagte sie. »Ich weiß net, warum.«
Severin hob die Augenbrauen. Der alte, erfahrene Jäger hatte wohl Lunte gerochen. Verwunderlich war es nicht, wenn man bedachte, mit welcher unbekümmerten Dreistigkeit sich der Ludl auf dem Stieglerhorn und dem Kleebuckel herumgetrieben hatte. Oft genug nicht allein, sondern mit allen möglichen Burschen aus Farngries und Garthofen. Da konnte leicht ein unbedacht dahingesprochenes Wort an das Ohr des Forstmannes gelangen.
»Er ist der beste Bergführer im ganzen Landkreis«, sagte Martha und riss den Bauernsohn aus seinem Sinnen. »Die Fremden sprechen höchstes Lob über ihn aus.«
»Dann wird es wohl stimmen«, antwortete er. »Ich hoff, du wirst recht glücklich mit ihm.«
Der Nachthimmel war inzwischen hinter dickem Gewölk verschwunden. Martha und Severin sahen kaum die Hand vor den Augen, als sie am Jägerhäusl anlangten. Der Blonde wollte sich gerade von dem Mädchen verabschieden, da schwang die Tür auf, und die lange, hagere Gestalt des Jägers stand auf der Schwelle. Der Lichtschein, der aus dem Flur drang, fiel auf Martha und Severin.
»Wo bleibst denn so lang, Kind?«, fragte der Jäger unwirsch. »Die Mutter wartet schon sehnsüchtig aufs Medikament.«
»Von zwei Betrunkenen bin ich aufgehalten worden, die ziemlich zudringlich waren«, berichtete sie und deutete auf den Bauernsohn. »Wenn der Mangold-Severin net zufällig dahergekommen wär, hätt ich wohl viel Ärger mit ihnen gehabt.«
»Hm!« Der Forstmann kraulte seinen graumelierten Kinnbart. »Da sind wir ja dem jungen Mangold sehr verpflichtet. Will er mit mir ein Glaserl Wein trinken und sich die Hand schütteln lassen?«
Der Blick aus den grünen Mädchenaugen ruhte auf dem Jungbauern. Dieser nickte bereitwillig. Die Aussicht auf längeres Zusammensein mit der Jägerstochter war zu verlockend. »Gegen ein Glaserl Wein hab ich noch nie was einzuwenden gehabt«, erklärte er lachend. »Aber Dank seid ihr mir net schuldig. Jeder hergelaufene Bettelbub hätt genauso gehandelt.«
Die Rothaarige schob ihn über die Schwelle, und wenig später saß er in der guten Stube des Jägerhäusls. In drei Gläsern funkelte roter Terlaner. Doch die beiden Männer warteten mit dem ersten Schluck, bis Martha aus dem Schlafzimmer der Mutter zurückkam. Dann hoben sie zusammen mit ihr die geschliffenen Kelche.
»Ich trink«, sagte Severin, »auf die baldige Genesung der Frau Ebenhecht. Eine kranke Frau im Haus ist ein harter Schicksalsschlag. Ich weiß das, weil meine Mutter einen schwachen Magen hat, der sie oft genug ins Bett zwingt.«
»Darauf wollen auch wir trinken«, stimmte Ebenhecht zu. Sie nahmen tüchtige Schlucke und stellten die Weingläser zurück auf den Tisch.
Der blonde Besucher schaute sich in dem nicht sehr großen Raum um. Die Einrichtung war einfach, rustikal. An den Wänden hingen Hirschgeweihe, Rehkrucken und Gemskrickel. Auch ein ausgestopfter Steinadler. Alles in diesen vier Wänden strahlte Behaglichkeit aus. Starkes Neidgefühl auf Ludl stieg in Severin hoch. Dieser durfte so oft hier sein, wie er nur wollte. Hier bei ihr.
Der Blick des Jungbauern wanderte zu der Tochter des Hauses hin. Ihr fein geschwungener Mund stand halb offen und ließ zwei schneeweiße Zahnreihen