Severins Mundwinkel bogen sich nach unten. »Das wohl net«, sagte er. »Wir haben uns ein paarmal getroffen. Eine Freundschaft ist net entstanden.« Er war heilfroh, dass der Jäger nicht wusste, zu welchen Vorhaben sie sich verabredet hatten.
»Ich wollt«, murmelte der hagere Waidmann, »meine Tochter tät auch so daherreden. Aber bei ihr ist’s net bloß Freundschaft. Mir scheint, sie ist ganz versessen auf den Menschen.«
Marthas Stirn rötete sich leicht. »Was hast bloß gegen ihn, Vater?«, fragte sie vorwurfsvoll. »Er verdient sich auf ehrliche Weis sein Geld und hat noch kein respektloses Wörtl gegen dich geäußert.«
Ebenhecht wiegte den Kopf hin und her. »Im Dorf wird viel geredet. Auch über ihn. Aber darauf geb ich nix. Seine Augen sind’s, die mir net gefallen. Darin liegt Falschheit.«
»Vater!« Entrüstet sprang die Rothaarige auf. »Du bist ungerecht. Davon will ich nix mehr hören.«
Severin trank sein Glas aus und erhob sich. »Für mich wird’s höchste Zeit, heimzumarschieren.« Er streckte dem Hausherrn die Hand entgegen, die dieser ergriff und fest drückte. »Ich dank dir für das gute Tröpferl, Jäger. Gut Nacht!«
»Dass du meinem Dirndl beigestanden hast, das wird net vergessen«, versicherte Ebenhecht. »Komm gut nach Haus!«
Im Vorgarten standen sich Martha und Severin gegenüber. »Träum was Schönes und denk nimmer an die Besoffenen«, empfahl der blonde Bauernsohn lachend.
»Ich wüsst net, wie ich mich besser bedanken könnt als mit einem Busserl.« Sie umfasste seinen Kopf und zog ihn zu sich herunter. Ihre weichen Lippen drückten sich auf die seinen. Dann ließ sie ihn los und hastete zur Tür.
»Dafür hätt ich sogar zehn zudringliche Bürschl verjagt«, rief er ihr vergnügt nach. Sie sah sich nicht mehr um und verschwand im Haus.
Wenig später lag er in seinem Bett und bemühte sich, an Gundi zu denken. Doch es gelang ihm nicht. Die nussbraunen Augen der Posthalterin bekamen einen grünen Schimmer, und die brünetten Haare färbten sich kupferrot. Verwirrt drehte er sich auf die Seite und schlief endlich ein.
*
Fünf Personen keuchten hinter dem Bergführer Ludl Neudecker den schräg ansteigenden Felsenpfad hinauf. Fürsorglich sah sich der Bergkundige immer wieder um und ermahnte die ihm anvertraute kleine Schar, keinen Fehltritt zu machen. Der Steig war kaum einen Meter breit. Daneben gähnte der Abgrund.
Der Sonnenball glühte gnadenlos am stahlblauen Himmel und zwang das wohlgenährte Ehepaar Tiedemann aus dem Norden des Landes, schweißüberströmt den Anstieg fortzusetzen. Das Paar wurde von den beiden halbwüchsigen Söhnen und der zwanzigjährigen Tochter Mathilde begleitet. Ludls Aufmerksamkeit galt besonders der üppigen Zwanzigjährigen, die seine freundlichen Bemühungen mit verheißungsvollen Augenaufschlägen quittierte.
Die Gruppe erreichte die untere Grenze des Firns und hielt auf einem geräumigen Felsplateau an. Viele bewundernde Ausrufe galten dem gewaltigen Bergpanorama, das sich vor den mit Ferngläsern bewaffneten Augen der Städter ausbreitete. Doch noch mehr den Gemsrudeln, die in der Nordwand standen.
Mathilde suchte die Nähe des Bergführers und drückte ihre Schulter gegen seinen Oberarm. Dabei drehte sie eifrig an der Einstellung ihres Feldstechers. »Ich sehe nur Gemsen, aber keine Steinböcke«, klagte sie.
Ludl lachte glucksend. »Und wenn Sie sich die lieben Äugerl aus dem Köpferl gucken, Dirndl, einen Steinbock werden Sie net sichten. Die Viecherl sind in unserer Gegend längst ausgestorben.« Er betrachtete die schwellenden Formen des Mädchenkörpers. »Aber es gibt trotzdem allerhand Schönes zu sehen.«
»Ich habe Hunger«, meldete sich Herr Tiedemann zu Wort.
Die Gruppe setzte sich auf den rauen Felsboden, was Mathildes Mutter einen Ächzlaut entlockte. Ludl zerrte den Rucksack mit dem Proviant von den Schultern und breitete ein Wachstuch aus, auf das er nahrhafte Dinge legte: Räucherfleisch, Butter, Käse und Brot. Alle Bergwanderer griffen bereitwillig zu. Die Mutter vertilgte am meisten. Dazu tranken sie Zitronentee, den der Bergführer in Blechbecher abfüllte.
Nach Beendigung der Vesper deutete einer der Söhne hinauf zum schneebedeckten Gipfel des Zweitausenders. »Wie lange brauchen wir noch, bis wir oben sind?«, fragte er neugierig.
Feixend schüttelte Ludl den Kopf. »Das können wir den Damen net zumuten«, erklärte er.
»Ausgeschlossen!«, ließ sich Frau Tiedemann vernehmen. »Mir graut schon vor dem Abstieg.«
Ihr Gemahl, der mit Hingabe eine dicke Zigarre paffte und blaue Wölkchen in die klare Bergluft blies, brummte: »Wer ist eigentlich auf die Schnapsidee gekommen, uns einer solchen Strapaze auszusetzen?«
»Ich«, sagte die formenreiche Tochter und lächelte den Bergführer an.
Sie rasteten noch eine weitere Stunde und machten sich dann an den Abstieg. Mathilde richtete es so ein, dass ihr Ludl an schwierigen Stellen immer mit hilfreicher Hand beistehen konnte. Dabei sahen sie sich tief in die Augen. Beide zuckten heftig zusammen, als ein gellender Schrei ertönte, dem ein zweiter folgte.
»Mein Lothar ist abgestürzt«, entrang es sich den bleichen Lippen der Frau. Dann sank sie in die Arme ihres Mannes.
Ludl, der sich mit der Tochter am Ende der kleinen Schar gehalten hatte, rannte fluchend nach vorne. Seit vier Jahren verdiente er sich sein Brot als Bergführer, und noch nie hatte es einen Unglücksfall gegeben. Sein guter Ruf stand auf dem Spiel, wie er wusste.
Der jüngere Sohn hielt sich entsetzt eine Hand an den Mund und wies mit ausgestrecktem Arm zum Rand des schmalen Steigs hin. Ludl beugte sich vor und sah hinunter. Zu seiner großen Erleichterung hing der fünfzehnjährige Tiedemannsohn an einem vorstehenden Felszacken, den er beim Absturz mit den Händen hatte greifen können. Jammernd blickte er nach oben. Tränen der Angst rannen über die noch kindlichen Wangen.
»Festhalten, Bub!«, rief ihm der Bergführer zu. »Ich komm hinunter und hol dich.«
Ludl riss sich den Rucksack vom Rücken, kniete nieder und schwang sich über den Rand des Steigs. Vater Tiedemann war damit beschäftigt, die Gemahlin aus der Ohnmacht zurückzuholen. Der jüngere Sohn stand zitternd an seinem Platz und wagte nicht, sich zu bewegen. Nur die Tochter, sie schien die stärksten Nerven der Familie zu besitzen, beobachtete aufmerksam die Rettungsaktion des erfahrenen Berggängers.
Dieser hatte es nicht leicht. Die Wand fiel fast senkrecht ab, und der Fels war nicht sehr griffig. Er bot wenig Halt für die Finger und Stiefelspitzen. Doch mit dem Gespür des echten Naturmenschen fand Ludl immer wieder eine winzige Vertiefung, in der er sich festkrallen konnte. Trotz angespannter Konzentration schimpfte er fortwährend vor sich hin, dass man mit diesen Lausbübln allweil Ärger und Verdruss habe. Tiefer und tiefer arbeitete er sich. Die Sonne brannte auf ihn herab und trieb ihm Schweißtropfen aus jeder Pore.
»Ja net loslassen, Bürschl!«, warnte er noch einmal den Unglücksraben, von dem ihn noch etwa zwei Meter trennten. Dann war er endlich bei ihm.
Der Junge stierte ihn aus aufgerissenen Augen an. Die Zähne klapperten hörbar. Ludl packte einen Arm des Fünfzehnjährigen und legte ihn sich um den Hals. In diesem Moment lösten sich die Finger der anderen Hand kraftlos von dem Felszacken. Der Bub stieß einen Schreckensschrei aus. Er hing an Ludls Rücken und bewegte haltsuchend die Beine. Ludl verspürte einen Ruck, der ihm beinahe das Gleichgewicht geraubt hätte. Zum Glück hatte seine linke Schuhspitze in einem kleinen Felsloch einen festen Stand.
»Klammere dich an mich, Bürschl, so fest du kannst«, keuchte der Bergführer.
Behutsam begann er mit dem Aufstieg. Zentimeter um Zentimeter arbeitete er sich höher. Das Hemd klebte ihm nass am Leib. Von der Stirn rann ihm Schweiß in die Augen, brannte höllisch und trübte die Sicht.
Er mobilisierte alle Kräfte, die in seinem muskulösen Körper